Bundesliga:Zwei Erscheinungen erleuchten Leverkusen

Bayer Leverkusen - Hannover 96

Vor dem Spiel gegen den FC Bayern München blicken alle auf Stürmer Javier Hernández Balcázar, besser bekannt als Chicharito. Ein Deutscher wird in Leverkusen noch höher geschätzt.

(Foto: dpa)

Von Philipp Selldorf, Leverkusen

Der Weg vom Trainingsplatz bis zur Tür des Kabinentrakts beträgt in Leverkusen ungefähr 150 Meter. Weder bewachen Polizisten noch der Werkschutz oder wenigstens eine Abordnung des vielköpfigen Trainerstabes die Strecke, was bedeutet, dass die Bayer-Fußballer unterwegs von ganz normalen Menschen angesprochen werden können.

Für einen prominenten Spieler wie Javier "Chicharito" Hernandez ist das eine exotische Form von Volksnähe. In Manchester und Madrid, wo er bei United und Real in Torjägerdiensten stand, trainierten seine Teams in der Klausur abgeschotteter Sportzentren. Und nun dies, nur drei Tage vor dem Spitzentreffen mit Bayern München: Kaum macht sich Señor Chicharito auf den Weg, schon nähern sich die Leute mit ihren Fotohandys und Autogrammblöcken. Doch der mexikanische Mittelstürmer stellt sich lächelnd den Bewunderern, was ihm schon dadurch nicht schwerfällt, dass deren Gesamtzahl sich auf drei spanische Touristen beläuft.

Chicharito mag zwar in Mexiko ein Weltstar sein, die Fans von Bayer 04 Leverkusen sehen sich deswegen aber nicht genötigt, den Trainingsplatz zu belagern. Es genügt ihnen offenbar, dass der 27 Jahre alte Angreifer mit seinen 21 Toren seit Ende August die Erwartungen so was von übererfüllt hat, dass der leitende Marketingmann Jochen Rotthaus jetzt auf einem Kongress kundtat, der Klub müsse "den Chicharito-Effekt, so gut es geht, mitnehmen", sich aber "auch für eine Zeit nach Chicharito wappnen".

Kießling und Chicharito bilden gefährliches Duo

Damit unterstellte er, dass sich Bayer 04 bald wieder vom Angreifer verabschieden müsse, weil der kleine Mann zu groß sei für den Klub. Eine Theorie, die in der sportlichen Abteilung des Vereins auf wenig Verständnis traf. Dass Chicharito gleich wieder nach England wechseln wolle, hält man dort nicht mal für ein Gerücht. Erstens, weil er einen Vertrag bis 2018 unterschrieben habe, und zweitens, weil er bei Bayer die Anerkennung bekomme, die dem sensiblen Angreifer in England so sehr gefehlt hatte.

Pep Guardiola wird seine Bayern natürlich auf die Gefahren einstellen, die von der neuen Kooperative im Leverkusener Angriff ausgeht - hier der raffinierte Chicharito, dort dessen kämpferischer Partner Stefan Kießling. Aber als seriöser Experte wird er bestimmt auch ein paar Worte über Jonathan Tah sprechen, denn neben Torjäger Chicharito ist Tah in Leverkusen die leuchtende Erscheinung der Saison.

Fragt man den Trainer Roger Schmidt, was er von seinem Innenverteidiger halte, dann lächelt er und weist darauf hin, dass er seine Ansicht doch ausreichend belegt habe: "Ich habe ihn ja ab und zu aufgestellt." Genau gesagt hat Schmidt den 19-Jährigen 30 Mal aufgestellt, also in sämtlichen Saisonspielen. 30-mal 90 Minuten Bayer plus 90 Minuten in der U21-Nationalelf, das ist die beeindruckende Saisonbilanz des jungen Profis, der in der vorigen Saison noch als Leihgabe des Hamburger SV bei Fortuna Düsseldorf spielte.

Leverkusens Sportmanager erhebt Tah zum "Königstransfer"

Nicht verwunderlich, dass Leverkusens Sportmanager Jonas Boldt nicht den bewährten Profi Chicharito, sondern den Lehrling Tah zum "Königstransfer" erhebt. Mehr als acht Millionen Euro hat der Klub in ihn investiert - Risikokapital. Man hatte sich also viel versprochen. "Wir hatten eine klare Vision", sagt Boldt, "aber dass er jede Minute spielt, das war natürlich nicht geplant." Die Umstände - die Verletzungen von Toprak und Papadopoulos - machten aus dem Perspektivtransfer einen hochwertigen Soforthilfetransfer.

Zuletzt entstand Gerede, dass der in Hamburg geborene Verteidiger auch für Jogi Löws EM-Kader in Frage käme, was man bei Bayer aus pädagogischen Gründen zwar nicht gern hörte, aber auch nicht abstreiten mag. "Muss man schon so einschätzen", sagt Schmidt vorsichtig. Die Vorzüge lassen sich ja nicht leugnen: Statur, Schnelligkeit, fußballerisches Vermögen, alles ist reichlich vorhanden, plus Steigerungspotenzial. "Und wichtig ist, dass das Talent mit der richtigen Mentalität einhergeht", wie der Trainer hinzufügt: "Lebenswandel, Ernährung, Regeneration - Jonathan ist ein absoluter Profi."

Leverkusen muss sich beim HSV bedanken

Dank gebührt auch dem Hamburger SV, der umfassend als Erziehungsanstalt diente. Dass Tah, wie die Bayer-Leute hervorheben, in so jungen Jahren schon so ein gereifter Spieler ist, das liegt auch am Crash-Kurs, den er beim HSV erhielt. Im ersten Profijahr lernte er als 17-Jähriger drei Cheftrainer kennen, dazu so verschiedenartige wie Thorsten Fink, Bert van Marwijk und Mirko Slomka.

Fink führte ihn in die Bundesliga ein, van Marwijk schenkte ihm Vertrauen, Slomka wusste nichts mit ihm anzufangen. So ging er nach Düsseldorf, Bayer hatte ihn längst im Visier. Während der Rückrunde spielte er mit der Fortuna in seiner Heimatstadt vor, beim FC St. Pauli. Außer Bayer-Manager Boldt war auch die gesamte HSV-Obrigkeit zugegen, als St. Pauli 4:0 gewann und Tah dicke Fehler machte.

Am nächsten Tag bekam Boldt einen Anruf von Tahs Berater Christian Nerlinger. "Hoffe, du hast das Spiel nicht gesehen", sagte er. "Aber ja doch, und ich bin froh, dass noch andere zugeguckt haben", erwiderte Boldt. Die Partie hatte ihm noch ein paar Argumente gegeben, um die Hamburger für Tahs Verkauf zu gewinnen.

Nicht undenkbar, dass Tah die Leverkusener früher verlässt als Chicharito. Eins-a-Innenverteidiger sind rar geworden. Die Bayern, der Gegner am Samstag, haben bereits prüfende Blicke auf ihn geworfen.

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