Bundesliga:Wo die Ursachen des Schalker Dramas liegen

Von Philipp Selldorf, Gelsenkirchen

Ralf Fährmann trug nach dem Spiel wieder diese graue, schlumpfmützenartige Wollmütze, die vor zwei, drei Jahren in Hipster-Kreisen sehr populär war, inzwischen aber unter dem verächtlichen Label "Sackmütze" als vergangenes Modephänomen abgelegt ist. Den Schalker Torwart scheint diese Deklassierung nicht zu kümmern, die graue Mütze gehört weiterhin zu seinen ständigen Accessoires, offenbar steht er zu ihr in ähnlich enger und loyaler Beziehung wie zu seinem Fußballklub, dessen Publikum ihn nicht nur deshalb, aber besonders auch darum als Volkshelden verehrt, sogar mehr noch: als echten Schalker, was die höchste Form königsblauer Verewigung ist.

Solche Gedanken konnten einem kommen, als man Fährmann an diesem Samstagabend unentwegt von dieser imaginären Kopfbedeckung reden hörte, die Torhüter immer dann aufsetzen, wenn sie öffentlich Schuld und Reue bekennen. Fährmann hat das nach dem Spiel mindestens 97 Mal getan, vor jedem Mikrofon, jeder Kamera, in jedem Zwiegespräch. Immer wieder sagte er, dass er diese beiden Gegentore und damit auch die 2:3-Niederlage gegen Bayer Leverkusen auf seine "Kappe" nehme, die graue Sackmütze war an diesem Abend eine Büßermütze.

Wäre Fährmann ein Japaner, dann hätte er sich am Samstag mindestens so tief und so ausdauernd verbeugt, wie es die Manager von Mitsubishi im Laufe der vorigen Woche gemacht haben, als sie für die Abgase ihrer Autos um Vergebung baten. "Bei jedem einzelnen Fan" und bei jedem seiner Mitspieler entschuldigte sich Ralf Fährmann demütig: "Wenn ich die Fehler nicht mache, dann kommt Leverkusen niemals zurück ins Spiel - und wir nicht in die Bredouille."

Die Ursachen des Dramas liegen im großen Ganzen

Dass Fährmann den 0:2 zurückliegenden Leverkusenern zur Spielwende verholfen hatte, als er mit einem hektischen Abwurf die (mittelbare) Vorlage zum 1:2 durch Julian Brandt servierte und zwei Minuten später Karim Bellarabis harmlosen Schuss zum 2:2 passieren ließ, das ist nicht zu bestreiten. Dennoch übertrieb er mit den Schuldzuweisungen an sich selbst.

Dieser sportliche Unfall war ein Drama nach Schalker Art, dessen Ursachen im großen Ganzen liegen. Von den Fußballprofis bis zum umstrittenen Vereinsoberhaupt Clemens Tönnies und von den Kurvenfans bis zu den Haupttribünenbesuchern - jeder trägt auf seine Weise dazu bei, dass dieser Verein das Bild einer krisenhaften, schnell erschütterbaren Konstruktion abgibt.

In der Gewissheit um die Schalker Instabilität fanden am Samstagabend die Bayer-Spieler und ihr Trainer Roger Schmidt Motivation und Ermutigung, als sie sich während der Pause vom Rückstand und dem quasi gewaltsamen Zugriff der starken Schalker zu erholen suchten.

Julian Brandt sagte später, man habe genau gewusst, dass sich in diesem Schalker Team - so gut es auch in der ersten Halbzeit aufgetreten war - jederzeit "Verunsicherung" wecken ließe und dass dabei die Emotionen der Zuschauer eine hilfreiche Rolle haben könnten. Tatsächlich breitete sich sofort angstvolles Raunen auf den Rängen aus, als Bayer nach dem Wiederanpfiff erwartungsgemäß Tempo machte und die Schalker Deckung berannte. Prompt begann die Schalker Deckung zu wackeln, während Schalker Angriffe nicht mehr stattfanden.

Bellarabis Pfostenschuss in der 51. Minute war die Ouvertüre zur Wende, für die Bayer nicht mehr Zeit benötigte, als Horst Heldt braucht, um eine Zigarette zu genießen. "Mental wird das jetzt erst mal einen Knick geben", prophezeite der Manager. Dabei war die Stimmung auch vorher schon hinreichend geknickt.

Schalkes Unglück im Zeitraffer

Ständige Beobachter empfanden diesen Abend als Darstellung des unglücksvollen Schalker Lebens im Zeitraffer. Darüber hinaus hat es in dieser Spielzeit einige Partien mit ähnlicher Dramaturgie gegeben. Trainer André Breitenreiter hat am Samstagabend nicht zum ersten Mal von einer "besten Halbzeit der Saison" geschwärmt, denn Schalke hatte ja tatsächlich, wie Roger Schmidt sagte, "fantastisch gespielt" im ersten Durchgang: druckvoll, dynamisch, variabel, rasant. Aber nicht zum ersten Mal war es dann wieder nur ein Teilzeitrekord. Auf ein Schalker Spiel mit zwei guten Halbzeiten wartet man immer noch.

Die Ermittlungen sind deshalb mit Fährmanns Geständnis nicht beendet. Breitenreiter lobte sich selbst, als er über die erste Halbzeit sprach ("Wir haben gesehen, was möglich ist, wenn die Jungs umsetzen, was vorgegeben wird"), für die Betriebsstörungen hingegen sah er sich nicht zuständig: Er habe zur Pause angeordnet, "dass wir weiter aktiv bleiben und auf das dritte Tor gehen. Dann gehen wir raus und verfallen in Tiefschlaf."

"Es ist jetzt nicht der Zeitpunkt, dass ich anfange, mich selbst zu belügen"

Später immerhin wachten die Schalker aus der Demoralisierung auf - was nicht so typisch für sie ist - und nötigten Bayer zum forcierten Abwehrkampf. Torwart Bernd Leno verhinderte "mit einer Monster-Parade" (Roger Schmidt) das 3:3 durch Klaas-Jan Huntelaar, der bereits in der 5. Minute mit einem Foulelfmeter am Bayer-Keeper gescheitert war.

Es wäre sogar möglich, diesen verrückten Schalker Auftritt, die Leistung von Spielern wie Choupo-Moting, Sané, Meyer oder Goretzka, als Bestärkung aufzufassen. Aber der umfassende Frust auf Schalke äußerte sich in einer aufrichtigen Bemerkung von Manager Heldt: "Es ist jetzt nicht der Zeitpunkt, dass ich anfange, mich selbst zu belügen. Das kommt am Montag oder Dienstag", erwiderte er auf die Frage nach den positiven Eindrücken, die er von diesem Abend mitnehmen werde.

Auch André Breitenreiter schien sich darüber klar zu sein, dass ihm Ralf Fährmanns Schuldgeständnisse nicht helfen werden, seinen Trainer-Posten zu verteidigen. Der Champions-League-Platz ist mutmaßlich verloren, und das Erreichen der Europa League ist nicht der Erfolg, der Breitenreiters Mission erhalten könnte.

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