Bundesliga:Wie Hannover 96 die Bundesliga verblüfft

Hannover 96 - Borussia Dortmund

Zwei, die für den Aufschwung stehen: Hannovers Ihlas Bebou (rechts) und Martin Harnik.

(Foto: dpa)

Von Jörg Marwedel, Hannover

Es ist ein ungemütlicher November-Morgen. Auf dem Tisch steht eine 96-Kaffeetasse, manchmal muss das Fenster geöffnet werden, damit der Manager eine Zigarette rauchen kann. Horst Heldt hat trotz der trüben Herbststimmung gute Laune. Am Wochenende steht ein Spitzenspiel an, sein Klub Hannover 96 reist als Tabellenvierter zum Tabellendritten RB Leipzig. Und obwohl er bester Dinge ist, sagt Heldt: "Es geht für uns nur um den Klassenerhalt. Jeder Punkt zählt." Das meint er durchaus ernst. 96-Trainer André Breitenreiter sagt ja auch nach jedem Sieg nichts anderes. Zuletzt nach dem 4:2 gegen Titelanwärter Borussia Dortmund.

Vielleicht ist diese Bodenhaftung das Wichtigste nach dem Wiederaufstieg gewesen. Die Mannschaft habe nach dem "alternativlosen Aufstieg", wie es Präsident Martin Kind kanzlerinnenartig formulierte, gelernt, mit Druck umzugehen, glaubt Heldt. So ähnlich wie der FC Bayern, nur eine Klasse tiefer. Und nun ist eine Entwicklung in Hannover zu beobachten, die nicht viele erwartet hatten.

Mancher hatte 96 als ersten Anwärter für den erneuten Abstieg eingeschätzt. Doch mit den Entscheidungen im März, Martin Bader durch Heldt zu ersetzen, der den Trainer Daniel Stendel durch Breitenreiter ersetzte, hat Kind nach manchem personalpolitischen Fehlschlag offenbar alles richtig gemacht.

Wer nach den Gründen sucht, weshalb beim Aufsteiger derzeit ein Rädchen ins andere greift, landet automatisch bei Heldts altem Schalker Weggefährten Breitenreiter. Zum einen, weil der sich offenbar zu einem Taktikfuchs entwickelt hat. Sein Team kann mittlerweile während des Spiels den Gegner mit mehreren Systemen überraschen. Beim 1:0 zu Saisonbeginn gegen Schalke überrumpelte er den als Taktik-Experten geltenden Kollegen Domenico Tedesco mehrmals mit neuen Strategien. Heldt sagte damals lachend, er habe da gar nicht mehr folgen können.

Trainer Breitenreiter kann mit den Spielern umgehen

Mindestens genauso wichtig ist aber offenbar Breitenreiters Gabe, mit Menschen umzugehen. "Er hat das Gespür für jeden Einzelnen", sagt Heldt. Ein Beispiel: Beim DFB-Pokalspiel in Wolfsburg berief er Felix Klaus nicht einmal in den Kader und erteilte ihm eine öffentliche Rüge: Klaus rufe seine großen Fähigkeiten nicht ab. Drei Tage später, beim Sieg gegen Dortmund, stand Klaus nicht nur in der Startelf, sondern machte sein bestes Spiel seit Langem inklusive eines Freistoßtores in den Winkel. Klaus gab später zu, er brauche manchmal einen "Arschtritt".

Der andere Aspekt des Aufschwungs ist die Transferpolitik. Sechs Spieler für etwa 20 Millionen Euro kamen im Sommer, Ausgabenrekord für 96, Durchschnitt in der Bundesliga. Heldt ist in letzter Instanz dafür verantwortlich, aber mit Breitenreiter, dem neuen Sportlichen Leiter Gerhard Zuber (auch ein früherer Schalker) sowie dem von Kind eingesetzten sportlichen Aufsichtsrat Martin Andermatt diskutieren drei weitere Leute mit. Beim letzten Transfer - der Außenstürmer Ihlas Bebou, 23, kam Ende August für 4,5 Millionen Euro von Fortuna Düsseldorf - gab es "gewisse temporäre Irritationen", wie Kind es ausdrückte. Andermatt, mit einem Beratervertrag der 96-Fußball-AG ausgestattet, war gegen den Kauf. Er wollte lieber einen günstigeren Flügelspieler und noch einen Innenverteidiger verpflichten. "Knapp vorbei am großen Knall", titelte damals der Kicker. Heldt sagt, es hätte einiges "geklärt" werden müssen. Er sei nun mal für das operative Geschäft zuständig. Gehe es schief, sei sein "Gesicht als erstes in der Zeitung".

Selbst vermeintlich riskante Transfers gelingen

Doch es geht gerade ziemlich wenig schief in Hannover. Die Zugänge waren allesamt Verstärkungen, bis auf Torwart Michael Esser wurden alle Stammspieler. Der frühere Hoffenheimer Pirmin Schwegler ist jetzt der ruhende Pol im zentralen Mittelfeld, die Außenverteidiger Julian Korb (Gladbach) und Matthias Ostrzolek (HSV) sind offensivstarke Außenverteidiger, vorne sorgt neben Bebou, der wohl aufregendsten Verstärkung, auch Sturmspitze Jonathas für positive Unruhe. Und das Beste an den Zugängen: Keiner hat das sehr gute Klima im Team kaputtgemacht.

Bebou, den zweimaligen Torschützen gegen Dortmund, beobachtete Heldt schon zu Schalker Zeiten. Auch Bayer Leverkusen war schon einig mit ihm. Dann erwischte Heldt offenbar den richtigen Moment zur Verhandlung. Den Offensivspieler bezeichnet er als Musterschüler. Er habe sich nicht "wie Graf Koks aufgeführt", lobt Heldt. Bebou sei nicht nur wegen seiner Fähigkeiten - Geschwindigkeit, Technik, Übersicht - im Team schnell anerkannt gewesen, sondern auch, weil er ruhig und konzentriert gearbeitet habe und auch von den Mitspielern etwas fordere.

Selbst der riskanteste Transfer Jonathas erwies sich nicht als Flop. Der brasilianische Torjäger von Rubin Kasan ist nun mit fast neun Millionen Euro der teuerste Einkauf der 96-Historie. Es hätte schon deshalb schiefgehen können, weil er in elf Jahren für elf verschiedene Klubs spielte und sich damit das Attribut Wandervogel erarbeitete. Doch die Scouting-Abteilung erkannte nicht nur, dass er eine gute Torquote hatte und fast nie verletzt war, sie kam auch hinter das Geheimnis der vielen Wechsel: Heraus kam, dass Jonathas noch immer darunter leidet, dass er als Kind ausgesetzt wurde. Er kann nur schwer Vertrauen aufbauen. Bei 96 will man versuchen, ihm dieses Vertrauen zu geben.

"Das werde ich in zwanzig Jahren nicht vergessen"

Heldt könnte vollends zufrieden sein, würden ihm nicht die Ultras Sorgen bereiten. Es solle "viele Fußballkulturen im Verein geben", findet Heldt, der sich selber als Fußball-Romantiker bezeichnet. Er hat versucht, den Mittler zwischen den kritischen Anhängern und dem als Kapitalisten gebrandmarkten Martin Kind zu spielen. Natürlich seien auf Vereinsseite "kommunikative Fehler" gemacht worden, räumt er ein. "Ich bin auch für die 50+1-Regel", sagt er, also gegen ausufernde Investoren-Modelle. Aber Dietmar Hopp in Hoffenheim oder Kind seien ja keine normalen Investoren, sondern Begleiter, die ihren Klubs viel gegeben hätten. Deshalb sei es legitim, dass sie nach zwanzig Jahren die Mehrheit im Klub übernehmen wollen.

Heldts Hoffnung ist, dass auch die Oppositions-Fans irgendwann die Mannschaft wieder unterstützen. So, wie es noch im Mai war, als 50 000 Menschen vorm Rathaus den Aufstieg feierten. "Das", sagt Heldt, "werde ich auch in zwanzig Jahren nicht vergessen."

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