Bundesliga-Spitzenspiel:Der BVB ist kalt wie ein Rasiermesser

FC Porto v Borussia Dortmund - UEFA Europa League Round of 32: Second Leg

Dortmunder Chefstürmer: Pierre-Emerick Aubameyang.

(Foto: Bongarts/Getty Images)

Von Freddie Röckenhaus, Dortmund

Normalerweise lässt sich Hans-Joachim Watzke vor Spielen von Borussia Dortmund an Pessimismus nicht übertreffen. "Würden seine Prognosen immer eintreffen", beschreibt es BVB-Manager Michael Zorc, "wir würden längst in der dritten Liga spielen." Diesmal, vor dem plötzlich mit neuer Brisanz aufgewerteten Spiel gegen den Tabellenführer FC Bayern, scheint Watzke dagegen beinahe im Überschwang: "Ich bin immer skeptisch - aber wir haben eine realistische Chance." Um dann in gewohnter Manier nachzureichen: "Fest steht, dass die Bayern als Tabellenführer wieder nach Hause fahren werden, egal, wie es ausgeht."

Borussia Dortmund leistet sich vor dem unverhofften Gipfel eine Art Selbstbewusstsein auf Raten und ein behutsames Tasten nach mutigen Worten ohne Großsprecherei. "Wir wollen unbedingt gewinnen", ließ sich immerhin Trainer Thomas Tuchel entlocken, es werde "knistern" im Stadion. Laut Kapitän Mats Hummels wird es dort sogar "brennen". Aber große Parolen bleiben in Dortmund offenbar weiterhin auf dem Index: "Mit Parolen gewinnt man keine Spiele", sagt Watzke.

Schalkes Trainer André Breitenreiter habe einen Tag vor dem Europa-League-Spiel gegen Donezk angekündigt, vielleicht bis ins Finale kommen zu wollen. "Und? Hat diese Ankündigung etwas genützt?" Schalke schied gegen Donezk mit 0:3 sang- und klanglos aus. Ohne gut gelaunte Seitenhiebe gegen die blauen Nachbarn geht es in Dortmund eben nicht.

Nur Sokratis fehlt gegen die Bayern

Die Stimmung im Hause Weidenfeller könnte dieser Tage auch kaum besser sein. Am Mittwoch kehrte Roman Weidenfeller beim Spiel in Darmstadt nach langer Pause auf die Bundesliga-Bühne zurück, am Donnerstag kam Leo auf die Welt, der erste Nachwuchs des Dortmunder Torwarts und seiner Frau Lisa. Auch wenn am Samstag der Schweizer Roman Bürki nach auskurierter Grippe-Erkrankung wieder im Tor stehen wird, wie Thomas Tuchel am Freitag ankündigte - Weidenfeller ist ein Beispiel dafür, wie der Trainer nicht nur die taktischen Möglichkeiten der Dortmunder erweitert hat, sondern auch die Hinterbänkler seines starken Kaders durch geschickte, manchmal mutige Rotation ganz nah an die erste Elf herangeholt hat.

Tuchel hat es geschafft, dass sich selbst vermeintliche Außenseiter wie Adrian Ramos, Erik Durm, Moritz Leitner oder Neven Subotic nicht vernachlässigt fühlen. So mancher unkonventioneller Bankaufenthalt von Stammkräften wie Kagawa, Castro oder zuletzt sogar Gündogan hat der Mannschaft eine Menge emotionalen Klebstoff verpasst.

Gegen die Bayern fehlt nur der verletzte Innenverteidiger Sokratis. "Ich freue mich sehr, dass sich die Spieler von dem Rückstand frei gemacht hatten", lobt Tuchel auch deshalb, "es waren ja zwischenzeitlich auch schon elf Punkte Rückstand. Trotzdem hat die Mannschaft immer daran gearbeitet, dass die Situation jetzt so ist, wie sie ist." Dabei hatte die "Situation" in Wahrheit kaum noch einer für möglich gehalten. Nur Super-Optimisten wie Torjäger Pierre-Emerick Aubameyang hatten sich zwischenzeitlich noch getraut, öffentlich zu sagen, dass "Bayern nicht Meister" werde. Die schwierige psychologische Gemengelage brachte Hummels auf den Punkt: "Du gewinnst dauernd, alle hinter dir sind weit weg - aber du liest immer nur, dass du der beste Zweite bist. Das frustriert."

Lehren aus dem Hinspiel gezogen

Eine gute Halbsaison lang, spätestens seit der 1:5-Schlappe im Hinspiel bei den Bayern, hat Dortmund beharrlich weiter gebissen, obwohl der Meistertitel trotz rekordverdächtiger Siegesserie völlig außer Reichweite zu sein schien. Der Vorsprung vor den Konkurrenten, zu deren "Herausforderer" Tuchel den BVB zu Saisonbeginn erklärt hatte, also auf die Champions-League-Teilnehmer Wolfsburg, Leverkusen und Mönchengladbach, beträgt inzwischen schon 18 bis 23 Punkte. Aber erst seit Mittwoch, seit dem ersten richtigen Aussetzer der Bayern beim 1:2 gegen Mainz, öffnet sich plötzlich ein Fenster ganz nach oben. Ein Sieg, und München wäre nur noch zwei Punkte vorne.

Im Hinspiel hat noch nicht alles funktioniert im System Tuchel. Da ließen sich die allzu optimistischen, hochstehenden Verteidiger noch überspielen. Aber damals war Jérôme Boateng der Drahtzieher, der nun ebenso verletzt ist wie die Innenverteidiger-Kollegen Martínez und Badstuber. Drei so prominente Verletzte auf einer zentralen Position, das scheint nicht einmal der Kader der Bayern abzufedern. "Gegen die Bayern schießt du im allerbesten Fall ein Tor", sagt Watzke, "sie haben den besten Torwart der Welt, sie sind neben Barcelona die beste Mannschaft der Welt. Aber zuletzt haben sie zweimal gleich zwei Tore zugelassen." In Turin und gegen Mainz. In Dortmund wissen sie das zu bewerten.

Es fehlt dem BVB nicht an Selbstbewusstsein. In den Rückrundenspielen gibt es zwar nicht mehr so viele spektakuläre Spielzüge zu bewundern wie bisweilen in der Hinrunde. Dafür ist es Tuchel und Abwehr-Organisator Hummels gelungen, den Gegner weitgehend vom eigenen Strafraum fernzuhalten. Nur zwei Tore sind in den ersten sieben Bundesliga-Spielen des Jahres gegen Dortmund gefallen. Auch in der Europa-League gegen Porto gab es keine Gegentreffer.

Ein wenig erinnert die "effektive" Spielweise, wie Tuchel sie nennt, an die Bayern. Nach dem unterkühlten 2:0-Sieg am Mittwoch auf einem Kartoffelacker von einem Spielfeld in Darmstadt, lobte Tuchel geradezu, dass sein Team so unspektakulär wie nötig gespielt habe. In München werden sie den Reifeprozess von Tuchels Mannschaft mit Sorge beobachten. Der BVB spielt keinen freiwilligen Außenseiter-Fußball mehr, sondern kann Gegner inzwischen so rasiermesserkalt eliminieren, wie man es von den Bayern kennt.

"Wir müssen dem Riesen-Druck der Bayern entgehen", sagt Tuchel. Aber in Wirklichkeit ist Dortmund die einzige Mannschaft in Deutschland, die den Bayern selbst Druck machen kann. Nicht umsonst gilt das Dreieck Aubameyang, Mkhitaryan und Reus als Tormaschine. "Die Bayern sind Mentalitäts-Monster, waren sie immer schon", sagt BVB-Boss Watzke. Keiner solle glauben, dass Neuer, Lewandowski oder Müller, zu irgendeinem Zeitpunkt nervös würden. "Aber unsere Mannschaft hat inzwischen auch dieses Gen in der DNA." Eine mutigere Kampfansage wird es aus Dortmund wohl nicht geben.

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