Bundesliga:Abstiegskampf ohne Helm und ohne Gurt

FUSSBALL 1 BUNDESLIGA SAISON 2015 2016 32 SPIELTAG SV Werder Bremen VfB Stuttgart 02 05 2016 Mat

Textiltest: Claudio Pizarro (re., gegen Zimmermann) und Bremen hatten den VfB meistens im Griff.

(Foto: Ulmer/imago)

Von Ralf Wiegand, Bremen

Im Grunde durfte es niemanden überraschen, dass in diesem Spiel in nahezu keiner Sekunde nichts passierte, oder anders herum, jeder Angriff zu einer Chance, zu einem Tor, zu einem Eigentor, einem Freistoß, zu einem Pfostentreffer, zu einem Lattenheber oder zu einer sogenannten Glanzparade eines der beiden Torhüter führte.

Das Weserstadion fiel, wenn es die kollektive Schnappatmung der 41 000 Zuschauer zuließ, von einem Aaaah ins nächste Ooooh, wohl ahnend, dass in einem Wimpernschlag schon wieder vorbei sein konnte, was gerade noch wie eine sichere Gewissheit erschien. Werder Bremen gegen den VfB Stuttgart: Wenn das den Standard für die fünf Montagsspiele der Bundesliga gesetzt hat, welche die Liga den Bedürfnissen des Fernsehens künftig zugestehen will, dann sollten die Fans ihren Widerstand gegen dieses Vorhaben schleunigst aufgeben.

Monday, bloody Monday!

Die Bremer gewannen die wichtigste Partie des Jahres/Jahrzehnts oder Jahrhunderts - das konnte man sich je nach persönlichem Aufgeregtheitsgrad aussuchen - 6:2 (3:1). Sie schoben sich nicht nur auf den 15. Rang (34 Punkte), den vormals die Stuttgarter besetzt hatten, sie stießen den VfB auch noch auf den vorletzten Tabellenplatz. Aus dem zunächst nur historischen Montagsspiel, dem ersten seit 16 Jahren, war ein historisches Spiel geworden. "Man hat heute eine ganz besondere Atmosphäre gespürt, sagte Werders Kapitän Clemens Fritz später, "eine ganz Stadt, eine ganze Region stand hinter uns." Sein Trainer Viktor Skripnik assistierte: "Das war fast wie 2004, als wir Meister geworden sind.

Ich hatte Gänsehaut." Die Mannschaften hatten sich sehr exotische Ziele ausgesucht zur Vorbereitung auf die im Abstiegskampf richtungsweisende Partie; Stuttgart, Tabellen-15. vor Beginn, wählte das Landesinnere von Mallorca, das kaum ein Deutscher zuvor je gesehen haben dürfte, und Werder, der Tabellen-17., reiste nach Verden an der Aller, ein Ort, den womöglich noch weniger Deutsche kennen. Was dort trainiert oder besprochen wurde, blieb geheim, sicher ist nur: Um Abwehr ging es nicht.

Schon vor dem Spiel schleppten beide Mannschaften den Makel der schlechtesten Abwehrreihen der Liga mit sich herum, wegen jeweils 63 Gegentoren - wobei das verdammt negativ klingt für etwas, was auch wahnsinnig aufregend sein kann. Man könnte die Defensivabteilungen aus Bremen und Stuttgart ja auch einfach die unterhaltsamsten der Liga nennen, 134 Mal haben sie jetzt ihren Gegnern Tore ermöglicht. Die Leute bekommen was fürs Geld, garantiert, sogar montagabends.

Diesmal bekamen sie besonders viel: ein Spiel ohne Helm und ohne Gurt, eine Achterbahnfahrt ohne Sicherheitsbügel, eine Freifahrt im Fesselballon bei Windstärke zehn. Es ging einfach immer nur nach vorne, was das Hinten des Gegners wäre, wenn hinten beim Gegner jemand gewesen wäre. Aber da war ja meistens niemand. Lustiger kann Fußball nicht sein, selbst wenn es um die Existenz geht.

Der alte Affe Angst, ein guter Bekannter des Abstiegsgespensts

Also, Werder gegen Stuttgart, Überlebenskampf zweier Traditionsvereine. Der alte Affe Angst, ein guter Bekannter des Abstiegsgespensts, ist in solchen Fällen immer mit dabei, und Angst bekämpft man am besten laut pfeifend. Der VfB lud den Druck unmissverständlich auf die zwei Punkte und zwei Plätze schlechter gestellten Bremer ab, bei den Bremern wiederum versammelte sich tatsächlich eine ganze Stadt, vorneweg der Bürgermeister, hinter dem Verein. Werder sei etwas ganz besonderes, sagte Carsten Sieling, und so etwas geht nicht einfach vorbei. "Mors hoch" lautete das Bremer Motto, eine norddeutsche sprachliche Lieblichkeit für das Zusammenkneifen der Arschbacken.

Und dann ging es los, einfach so, dieses Spiel, das angeblich keiner verlieren durfte, was aber keine der beiden Mannschaften dazu veranlasste, sich irgendwo auf besondere Weise vor Gegentoren zu schützen. Die Bremer gingen nach elf Minuten durch Fin Bartels in Führung.

Eine der berühmten Bremer Fehlerketten, die sich jede Woche aufs Neue jemand in der Hölle ausgedacht haben muss, führte zum 1:1 durch Didavi (26.), ein feines Eigentor des Stuttgarters Barba, der den Ball per Kopf ins Tor verlängerte, zur erneuten Bremer Führung. Harnik traf noch den Pfosten, VfB-Torwart Tyton und sein Bremer Kollege Wiedwald, beide keine Koryphäen des Geschäfts, hielten hie wie da ein paar sehr gefährliche Bälle, ehe der für den verletzten Yatabaré eingewechselte Öztunali das 3:1 für die Bremer schoss. Er tat das so abgebrüht, dass er aussah wie Claudio Pizarro.

Dann war Pause, puh, aber das Beste sollte erst noch kommen.

Nach der Pause löste sich das, was vorher noch formal die VfB-Abwehr war, vollends auf, und Werder, nicht geschockt vom frühen Stuttgarter Anschlusstreffer zum 2:3 (Barba, 54.), zerlegte die Einzelteile der Schwaben in ihre Moleküle. Pizarro, Bartels und Anthony Ujah stellten mit ihren Treffern klar: So etwas wie Werder, das geht nicht einfach so vorbei.

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