Brüder bei der Fußball-EM:Xhaka vs. Xhaka - ein hochpolitisches Duell

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Noch herrscht Harmonie. Am Samstagnachmittag jedoch treten die Xhaka-Brüder Taulant (links) und Granit bei der EM gegeneinander an: Taulant für Albanien, Granit für die Schweiz. (Foto: Urs Jaudas/Tages-Anzeiger)

Granit Xhaka spielt für die Schweiz, sein Bruder Taulant für Albanien. Wenn sie zum Vorrundenspiel aufeinander treffen, wird es kompliziert.

Von Peter M. Birrer und Thomas Schifferle, Zürich

Die Verantwortung dafür, dass es jetzt zum Bruder-Duell kommt, Granit gegen Taulant, trägt David Trezeguet. Der Weltmeister von 1998 aus Frankreich zog jenes Los, das die Xhakas an diesem Samstag ab 15 Uhr in Lens aufeinandertreffen lässt. Dieses Duell steht für so vieles: für Fußballer, die in der Schweiz geboren sind und jetzt für Albanien spielen; und für Fußballer, die aus dem albanisch-stämmigen Teil des Balkans kommen und jetzt Schweizer Nationalspieler sind. Das Spiel steht für Granit und Taulant Xhaka, die Söhne von Ragip und Eli Xhaka. Granit, 23, als Schweizer, Taulant, 25, als Albaner.

Es wird das erste direkte Bruder-Duell überhaupt bei einer EM. Bei der WM 2014 in Brasilien haben zum Beispiel die Boatengs gegeneinander gespielt, Kevin Prince bei Ghana, Jérôme verteidigte für Deutschland. In Frankreich gehen nun vier Brüderpaare an den Start. Romelu und Jordan Lukaku (Belgien), Corry und Jonny Evans (Nordirland) sowie die Zwillinge Alexej und Wassilij Beresuzki (Russland) spielen in den gleichen Trikots, die Xhaka-Brüder in verschiedenen. Sie tun es mit viel Respekt vor der Herausforderung, wie Granit sagt: "Wer in einer ähnlichen Situation behauptet, das wäre kein spezielles Spiel, der lügt. 90 Minuten werden wir das Brüder-Sein professionell ausblenden." Dann wird er sportlich: "Der Bessere soll gewinnen."

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Ein atmosphärisches Problem könnte es allerdings werden, wenn dies nicht der Besserbezahlte sein wird. Denn Granit ist seit wenigen Wochen der teuerste Schweizer Fußballer der Geschichte, nachdem sein Transfer von Borussia Mönchengladbach zum FC Arsenal für offiziell 45 Millionen Euro besiegelt wurde. Für fünf Jahre bindet er sich vertraglich an die Londoner und verdient fortan umgerechnet 164 000 Euro in der Woche. Das macht im Monat geschätzt so viel wie sein Bruder Taulant beim FC Basel pro Saison verdient.

Ein Ruf wie "Verräter" gehörte noch zu den freundlicheren Dingen

Direkt haben beide erst einmal gegeneinander gespielt, am 12. März 2012. Taulant war damals vom FC Basel, bei dem beide ausgebildet wurden, an den Grashopper Club nach Zürich ausgeliehen, Granit drängte bereits in Basel nach vorne. Sie begegneten sich auf dem Platz nicht groß, Taulant verteidigte rechts hinten, Granit setzte seine Eleganz im Mittelfeld ein, Basel gewann 2:0. Vier Jahre später wird nun wieder zur Tatsache, was beide sich "als Letztes gewünscht haben", wie Granit es ausdrückt: Schweiz gegen Albanien.

Er weiß, wie es ist, gegen ein Land zu spielen, dem man verbunden ist. Er erlebte es in der Qualifikation zur WM 2014, in der er mit der Schweiz schon einmal auf Albanien traf, zuerst in Luzern, dann in Tirana. Sein Bruder war noch nicht dabei. Granit wurde wüst beschimpft, an beiden Orten, wie die ebenfalls albanisch-stämmigen Schweizer Valon Behrami und Xherdan Shaqiri. Aber nur wer Albanisch rede, könne nachvollziehen, wie heftig diese Beschimpfungen waren, sagt Granit. "Verräter" war noch etwas vom Freundlicheren. Zum Ausdruck kam darin ein Nationalismus, dem heute noch immer viele nachhängen, die vom Balkan stammen.

Taulant reagiert in dieser Frage weniger emotional als sein Bruder, er sagt: "Es wird ein Fußballspiel, das ich gewinnen will." Im Mittelfeld wird er in Lens direkt auf Granit treffen. Er will den Bruder nicht "umfräsen", wie er das nennt, nicht umhauen, aber hart will er sein, schließlich sei Fußball eine harte Sportart. Zumindest dann, wenn es um ihn und seinen Spielstil geht. Taulant ist kein Hochbegabter wie Granit, der auf dem Weg nach oben wie über einen roten Teppich schwebt. Ein Zufall kann es deshalb nicht sein, dass Taulant von seinem Vater einmal ein Leibchen von Gennaro Gattuso erhielt. Der Süditaliener Gattuso, Weltmeister von 2006, ist als der frühere "terrone" des AC Mailand weltbekannt geworden, als der Erdfresser.

250 000 bis 300 000 Albaner leben mittlerweile in der Schweiz. Um die 60 000 sollen den Schweizer Pass haben, schätzt der Rat der Albaner in der Schweiz. Ragip und Eli Xhaka, die Eltern, sind zwei von ihnen. Sie haben sich 1990 entschlossen, vor den Folgen eines Krieges zu fliehen, den Serbien in die autonome Provinz Kosovo und nach Pristina getragen hatte. Drei Jahre saß Ragip im Gefängnis, ohne den Grund dafür genau zu kennen. Basel wurde ihre neue Heimat, Ragip konnte bei einer Gartenbaufirma arbeiten, Eli als Putzfrau. Ragip ist selbst Fußballer gewesen, daheim in Pristina, bis er sich einen Beinbruch zuzog. Er war ein Spieler, wie es Taulant heute ist: schnell, bissig, heißblütig.

Peter Knäbel verfolgt den Weg von Granit und Taulant bis heute genau, einst als Nachwuchschef beim FC Basel, als Technischer Direktor des Schweizerischen Fußballverbandes oder bis vor Kurzem als Sportchef des Hamburger SV. Granit sei schon früh als "charming boy" wahrgenommen worden, erzählt Knäbel, als Spielgestalter. Zudem ist er ein Linksfuß, womit er ohnehin auffällt in einer Welt, in der Rechtsfüßer auf dem Rasen in der absoluten Mehrheit sind. Um es mit Knäbel zu sagen: "Granit gilt als der liebe Kreative, Taulant als der aggressive Böse." Knäbel erwähnt es im Wissen, dass diese Wertung oberflächlich ist und es eben auch andersherum sein kann. Granit hat genauso viel albanisches Blut wie Taulant, genauso viel Emotionalität in seinem Spiel. Und Taulant hat seine warmherzige Seite, auch wenn er im Spiel zuweilen den gegenteiligen Eindruck erweckt.

Im Sommer 2012 vollzieht Granit Xhaka, kurz vor seinem 20. Geburtstag, den Wechsel zu Borussia Mönchengladbach. Die Ablöse beträgt 8,5 Millionen Euro. Lucien Favre wird sein Trainer. Granit sieht keinen Grund, an sich etwas zu ändern, nur weil er fortan in der Bundesliga spielt.

Die 50-Meter-Pässe, den Umgang mit dem Ball - das bewundert Taulant schon früh an Granit

Er ist Xhaka, der Spieler, der mit dem FC Basel Titel gewonnen und Champions League gespielt hat. Bei einem Gladbacher Spiel in der Europa League kommt es in der Halbzeitpause bald zum Disput zwischen Marc-André ter Stegen und Granit. Der Torwart packt den Jüngling von hinten am Hals. Der lässt sich das nicht gefallen, "nicht einmal meine Eltern gehen so mit mir um. Er ist gleich alt wie ich, und ich lasse mir nicht alles gefallen". Er denkt: "Bin ich im falschen Film?" Am nächsten Tag gibt es eine Aussprache. Granit macht seinen Standpunkt klar. Und der zeigt: Er ist nicht der kleine Schweizer, der sich alles bieten lässt. Täglich telefoniert Taulant auch über solche Vorfälle mit Granit, seinem Bruder und Freund. Neid kennt er weiterhin nicht, nur weil der jüngere Bruder den Absprung geschafft hat: "Er ist eine super Persönlichkeit, Granit kann bei jedem Topklub spielen", sagt er oft - der Transfer nach London in die Premier League hat diese frühe Prognose jetzt bestätigt.

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Diese 50-Meter-Pässe, diese Technik, dieser Umgang mit dem Ball, diese Seitenwechsel - das bewundert Taulant schon früh an seinem Bruder. Er hätte bei seiner Karriere gerne dessen Tempo angeschlagen, aber er nimmt es so, wie es ist: "Ich bin wertvoll für eine Mannschaft. Ich bin keiner für die Galerie, keiner fürs Spektakel. Ich erledige die Drecksarbeit. Und wenn mich deswegen jemand einen Terrier nennt, habe ich kein Problem damit." Seine Art von Fußball schätzen oft nur die, die ihn in der Mannschaft haben. In Basel genießt er hohe Anerkennung, er weiß, warum: "Für einen Trainer ist es einfach, mich als Spieler zu haben. Er weiß: Wenn er mir etwas sagt, versuche ich es umzusetzen." Mal grätscht er, mal zupft er an den Haaren, nicht selten schreien die Schweizer Medien laut: Skandal!

Granit hat die Probleme bei der Borussia hinter sich gebracht, heute, da er den Klub verlässt, sagt er über seinen Bundesliga-Start: "Es ist nicht die beste Zeit gewesen, ich habe eine große Klappe gehabt, habe nicht gut gespielt, bin auf der Bank gesessen. Aber ja, ich habe noch immer eine große Klappe. Das ist die Wahrheit." In seiner letzten Saison mit Gladbach wurde Xhaka Vierter, die Qualifikation zur Champions League ist erreicht, er war ein prägender Kapitän, der häufig auch vom Platz flog. Hinterlassen hat er den Satz: "Ich weiß nicht, ob Gladbach jemals wieder einen Spieler haben wird wie mich."

Blut. Emotionalität. Zusammenhalt in der Familie. Das ist das Albanische bei den Brüdern Xhaka. Alles gehöre zu seiner Identität, sagt Granit. Er leugnet nichts, genau darum schafft er den Spagat zwischen der Schweiz und Albanien - zwischen dem Land, in das er hineingeboren wurde, und dem Land, in dem die Wurzeln seiner Familie liegen. Er dankt der Schweiz und ehrt die Verwandten daheim in Pristina. So einfach ist das für ihn.

Er sagt: "Die Schweiz ist unsere Heimat. Hier sind wir aufgewachsen, hier haben wir von der Schule profitiert und im Fußball davon, dass alles von hoher Qualität ist, Bälle, Schuhe, Plätze. Wir haben Bedingungen gehabt wie es sie in Albanien nicht gibt. Ich weiß, wir können immer etwas falsch machen. Wenn wir uns im Fußball für die Schweiz entscheiden, heißt es im Kosovo: Was, wie? Wenn wir uns gegen die Schweiz entscheiden, heißt es das auch. Ich bin stolz, Schweizer zu sein, ich bin stolz, für die Schweiz zu spielen. So, wie es ist, ist es gut."

Ein Nachsatz von Taulant: "Es gibt immer Leute, die sagen, du bist ein Verräter." Und er fügt an: "Wir können der Schweiz nur dankbar sein."

Die Brüder haben die Juniorenauswahlen der Schweiz durchlaufen, zunächst bestimmte Taulant das Tempo. Er tauchte schon in der U16 auf, Granit erst in der nächsten Altersstufe. Bis zur U21 spielte Taulant 46-mal für die Schweiz, Granit 43-mal. Vater Ragip nahm damals zeitig mit dem albanischen Fußballverband Kontakt auf, um sich nach den Perspektiven für seine Buben zu erkundigen. Das Echo war ernüchternd: kein Interesse.

"Unsere Mutter sagte, mach' die Schule fertig, man weiß nie, was passiert."

Es war der damalige Schweizer Teamchef Ottmar Hitzfeld, der sich mit den Xhakas zusammensetzte, um zunächst über Granits Zukunft zu sprechen. Und wenn ein Trainer dieses Kalibers kommt, wer will da Nein sagen? Der Fall war für Granit schnell klar: Er wollte weiter für die Schweiz spielen. Im Januar 2011 brach er die Lehre als Büroassistent ab. Die Mutter war dagegen, der Vater argumentierte pragmatisch. Taulant erklärt das Denken seiner Eltern so: "Unsere Mutter sagte: Mach die Schule fertig. Man weiß nie, was passiert. Unser Vater sagte: "Die Schule ist wichtig. Aber wenn du unbedingt Fußball spielen willst, dann mach das."

Wenige Wochen später bejubeln die Xhaka-Brüder auf dem Barfüsserplatz, dem Basler Feierplatz in der Stadt, den Meistertitel. Es blieb bis heute die einzige Familienfeier einer gemeinsamen Trophäe.

Taulant ist nun seit dem 7. September 2014 Nationalspieler für Albanien. Trainer Gianni De Biasi konnte ihn überreden. "Albanien, wieso nicht?", fragte sich Taulant. Wieso soll er als früherer Schweizer Nachwuchsspieler nicht für das Heimatland seiner Eltern antreten? Am Ende war es keine Entscheidung gegen die Schweiz, denn die bot ihm nie einen Platz im Nationalteam. Es ist eien Entscheidung für die Perspektive: Er will sich mit den Besten messen. Die Schweiz nimmt zum vierten Mal an einer EM teil; Albanien hat sich jetzt erstmals qualifiziert, beide spielen in der Gruppe mit Frankreich und Rumänien.

In Albanien lernte Taulant eine Welt kennen, die nicht so strukturiert ist wie die Schweiz. "Bin ich hier am richtigen Ort?", wunderte er sich anfangs. Er hat sich akklimatisiert. Heute weiß er, dass er richtig entschied. In Albanien spürt er menschliche Wärme. Die Mitspieler nennt er Brüder.

© SZ vom 10.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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