Brasiliens Nationalmannschaft:"Jesus ist ein Brasilianer!"

International Friendly - Germany vs Brazil

Brasiliens Thiago Silva und Dani Alves mit Maskottchen: Aufschwung in Berlin

(Foto: REUTERS)
  • Brasilien erholt sich mit dem 1:0 gegen die DFB-Elf allmählich vom WM-Schrecken.
  • "Jesus ist ein Brasilianer!", feiert die heimische Presse den Torschützen Gabriel Jesus.
  • Nationaltrainer Tite kann die Reise mit einem guten Gefühl beenden: Sein Team ist nicht mehr nur von ein oder zwei Spielern abhängig.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Natürlich haben auch die brasilianischen Fußballkritiker mitbekommen, dass Joachim Löw nicht seine allererste Elf aufgestellt hatte. Dass er das Wort "Testspiel" sehr wörtlich auslegte, indem er sieben neue Spieler brachte, von denen er während der Partie wiederum fünf austauschte. Das war auch deshalb so auffällig, weil Brasiliens Coach Tite sein Wechselkontingent nicht ansatzweise ausschöpfte. Erst in der Schlussphase brachte er Douglas Costa für den vom Dauerpressing erschöpften Philippe Coutinho, das war's. Schwer zu leugnen ist deshalb, dass an diesem Abend in Berlin zwei Mannschaften mit unterschiedlichen Prioritäten ins Spiel gingen: Die einen wollten vor allem üben, die anderen vor allem gewinnen.

Die breit verhandelte Frage ist nun, ob das die Bedeutung eines Sieges schmälert, der in der brasilianischen Fußballhistorie einen festen Platz einnehmen soll: als die endgültige Bewältigung einer traumatischen Störung, als Wiederherstellung des Seelenfriedens einer Fußballnation, als der Beginn der Post-Einszusieben-Ära.

Brasilien hat derzeit noch mit einer Reihe von anderen Traumata zu kämpfen, die weit über eine vier Jahre alte, sportliche Erniedrigung hinausreichen, und wohl auch deshalb herrschte am Morgen danach weitgehend Konsens darüber, dass jetzt auch mal genug ist mit den fußballerischen Selbstzweifeln. Löws gescheiterter Bewerbungsreigen hin oder her - es war immer noch der Weltmeister Deutschland, der da im Berliner Olympiastadion besiegt wurde, da wird man sich doch mal freuen dürfen. Und zwar ohne Wenn und Aber.

"Wir haben gelernt, ohne ihn zu spielen"

Der WM-traumatisierte Abwehrspieler Thiago Silva, der beim 1:7 gelbgesperrt gefehlt hatte und am Dienstagabend zu den Besten auf dem Platz gehörte, hatte schon unmittelbar nach dem Schlusspfiff stellvertretend für den Rest der gelb gekleideten Spieler die Botschaft nach Hause gesendet: "Dieses Trikot verdient ein bisschen mehr Respekt!" Und ein flüchtiger Blick auf die Schlagzeilen am Mittwochmorgen legt nahe, dass dieser Wunsch erhört wurde. "Seleção im 21. Jahrhundert angekommen", schrieb die Zeitung Folha de São Paulo. Das Boulevardblatt Extra jubelte sogar über einen 7:1-Sieg für Brasilien. Im Kleingedruckten war zu erfahren, dass dabei noch das 6:1 der Spanier gegen den Erzfeind Argentinien dazu addiert wurde.

Nationaltrainer Tite hat sich die Debatte um dem 1:7-Komplex derweil so gut es eben ging vom Leib gehalten. Der 56-Jährige ist ein pragmatisch denkender Südbrasilianer, der sich ohnehin weniger um die Geister der Vergangenheit schert als um konkrete Fortschritte in der Gegenwart. Und gerade in dieser Hinsicht hat ihm das Spiel in Berlin gefallen. Zumal in der ganzen Aufregung um die angebliche deutsche B-Auswahl ja fast in Vergessenheit geriet, dass auch die Gäste nicht in nomineller Bestbesetzung angetreten waren. Für den einstmals viel zu sehr auf Neymar zugeschnittenen Fußball der Brasilianer ist das zweifellos ein gutes Zeichen. Tite sagt: "Uns hat ein wichtiger Spieler gefehlt, aber wir haben gelernt, ohne ihn zu spielen."

Kroos ging frustriert, auch weil Tites Plan aufging

Beim DFB haben sie sich nach dieser Niederlage nicht ohne Grund über ihre eigenen Fehler und Ungenauigkeiten geärgert. Aber zur ganzen Wahrheit gehört wohl auch, dass Tites Mannschaft viele dieser Fehler provoziert hat. Etwa mit einem für brasilianische Verhältnisse erstaunlich aufdringlichem Pressing, das mitunter schon am Fünfmeterraum von Torwart Kevin Trapp begann. Oder mit der neuerdings sehr stabilen Defensive um die Innenverteidiger Miranda und Thiago Silva sowie dem Mittelfeldstaubsauger Casemiro, die den Deutschen kaum ernstzunehmende Torchancen genehmigte.

Ein entscheidendes Puzzlestück war zumindest aus Sicht der brasilianischen Teamleitung aber auch die Rolle des offensiven Mittelfeldspielers Paulinho. Er war praktisch mit der Manndeckung von Toni Kroos beauftragt worden, dem "Visionär des deutschen Spiels", wie Tite sagte. Erklärtes Ziel war es, dessen visionäres Wirken möglichst weit aus der Gefahrenzone heraus zu drängen, seine gefürchteten vertikalen Pässe zu unterbinden und ihn stattdessen zu Querpässen zu drängen. Kroos verließ das Stadion besonders frustriert, und das erklärt sich zumindest teilweise vielleicht auch damit, dass Tites Paulinho-Plan aufging.

Während in der fernen Heimat nun vor allem der Torschütze des Abends, Gabriel Jesus, gefeiert wird ("Jesus ist ein Brasilianer!"), beendet der stille Reformer Tite diese Länderspielreise mit dem guten Gefühl, dass sein Team eben gerade keinen Heiland mehr braucht. Er will mit einem Kader zur WM nach Russland reisen, in dem nicht ein oder zwei, sondern 14 oder 15 Spieler Verantwortung tragen. Auch deshalb hat er eine Kapitänsbinden-Rotation eingeführt und bestimmt vor jedem Spiel einen anderen Häuptling.

Und wenn er sich schon mit der Vergangenheitsbewältigung beschäftigt, dann denkt er nicht nur an die WM 2014, sondern auch an 2010 und 2006. Jedes Mal scheiterten die Brasilianer an europäischen Teams: Frankreich, Holland, Deutschland. Vor diesem Hintergrund waren Tite die jüngsten Siege in Moskau und Berlin wichtig. Und es ist auch kein Zufall, dass die beiden verbleibenden Testspielgegner vor dem WM-Start Kroatien und Österreich heißen.

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