Brasilien:"Tschitschi" - nur neun Spiele bis zum Volkshelden

Football Soccer - Brazil's national soccer team training - World Cup 2018 Qualifiers

Neun Spiele, neun Siege für Brasiliens Nationalcoach Tite.

(Foto: REUTERS)
  • Nationaltrainer Tite hat die brasilianische Mannschaft im Rekord-Tempo zur WM geführt.
  • Er hat dem krisengeplagten Land damit den Stolz zurückgegeben, das es nach dem peinlichen WM-Aus 2014 verloren hatte.
  • Einer Umfrage zufolge würden ihn viele Brasilianer sogar zum Staatspräsidenten wählen.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Eine aktuelle Umfrage hat ergeben: 15 Prozent der Brasilianer würden Adenor Leonardo Bachi zum Staatspräsidenten wählen. Das ist ein Wert, von dem der Amtsinhaber Michel Temer nur träumen kann. Die Umfrage ist schon deshalb erstaunlich, weil Bachi, 55, deutlich besser bekannt unter seinem Rufnamen Tite, gar keine politische Karriere anstrebt. Er ist zufrieden mit seinem aktuellen Job. Vor gut einem halben Jahr übernahm er den Posten als Cheftrainer der Seleção, des brasilianischen Fußballnationalteams. Er kam als Helfer in höchster Not. Inzwischen ist er ein Nationalheld. Und die sind rar im Land der tausend Krisen.

Die größte Volkswirtschaft Südamerikas taumelt durch ihr drittes Rezessionsjahr. Die Armut steigt, vielerorts eskaliert die Gewalt. Einflussreichste Unternehmer sitzen wegen Korruptionsverdacht in Haft, ihre Aussagen bringen die politische Elite in Verruf. Die Zika-Mücke verbreitet in diesem Jahr Gelbfieber. Und nicht einmal mehr ihrem geliebten Grillfleisch können die Brasilianer vertrauen. Lebensmittelkontrolleure wurden dafür bezahlt, nicht zu kontrollieren. Trotzdem haben viele Brasilianer gerade das Gefühl: Wir sind wieder wer - zumindest im Fußball.

Noch bis vor Kurzem taugte der Fußball als Symbol für das ganze Schlamassel. Es sah aus, als hatten sie im Land des Rekordweltmeisters sogar das Kicken verlernt. Die 1:7-Niederlage bei der Heim-WM gegen Deutschland schien die Seleção nachhaltig verstört zu haben. Die Qualifikation für die WM 2018 in Russland geriet in Gefahr und selbst Neymar, der letzte Volksheld, hatte keine Lust mehr auf die Kapitänsbinde.

Stiller Stratege, kein Popstar

Dann kam Tite (gesprochen: Tschitschi), seither haben die Brasilianer jedes Spiel gewonnen. Nach dem neunten Sieg in Serie am Dienstag gegen Paraguay stehen sie als erster WM-Teilnehmer neben Gastgeber Russland fest. Stürmer Neymar trägt die Binde wieder mit Stolz. Wohl auch deshalb, weil er sich die Bürde des Daseins als Volksheld jetzt mit Tite teilen kann.

Sicherlich, der Coach hatte gegen Paraguay ein Heimspiel. Es fand in der Arena Corinthians von São Paulo statt, dort wo der Mann seinen exzellenten Ruf einst begründete. Mit Corinthians gewann er 2012 die Klub-Weltmeisterschaft. Seine Laufbahn als Spieler endete früh und ruhmlos wegen eines kaputten Knies. Danach tingelte er als Trainer jahrelang durch die südbrasilianische Provinz. Seine Familie stammt aus Caixas do Sul, nahe der Grenze zu Uruguay: weniger Samba- als Gaúcho-Land. Der studierte Sportlehrer ist kein Popstar, sondern ein stiller Stratege.

Jetzt hat er eine Nationalelf mit vielen ehemaligen Corinthians-Spielern um sich geschart. Lauter Leute, die seine Philosophie begreifen: Wer gewinnen will, muss schön spielen. Genau danach hatte sich das anspruchsvolle brasilianische Publikum so lange gesehnt. Tite - vier Buchstaben bringen ein Land voller Selbstzweifel wieder zum Lächeln.

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