Brasilien im WM-Achtelfinale:Schmetterling unter Raupen

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Tausende Neymar-Trikots jubeln Neymar zu

(Foto: AFP)

Er ist schnell, elegant, trickreich - und der immense Druck prallt einfach an ihm ab: Neymar führt die brasilianische Elf ins WM-Achtelfinale. Doch Fußball ist ein Mannschaftssport. Gegen das "Selbstmord-Kommando" aus Chile könnte das der Seleção zum Verhängnis werden.

Von Thomas Hummel, Fortaleza

Brasilianer lieben das Feuerwerk. Wenn es knallt, heißt das noch lange nicht, dass Drogengangs gegen die Polizei oder untereinander scharf schießen. Meistens hat dann jemand zur Feier eine Zündschnur entfacht. Am Montagabend knallte es im Land, als hätte gerade ein neues Jahr begonnen. Das Jahr, in dem die Seleção Weltmeister werden könnte.

Es könnte im Nachhinein der Abend gewesen sein, an dem sich ein Land mit der Veranstaltung versöhnt hat. Zumindest im fußballerischen Sinne. Die Brasilianer freuten sich mit erheblichem Bumm-Bumm über das 4:1 (2:1) gegen Kamerun. Den ersten deutlichen Sieg der eigenen Kicker bei dieser Weltmeisterschaft. Sie feierten den Gruppensieg und den magischen Neymar. Dass die Afrikaner bereits vor dem Spiel ausgeschieden waren und einige Stammkräfte ersetzt hatten? Was soll's.

In Rio de Janeiro an der Copacabana flogen die Raketen und Böller, mehrere Zehntausend Menschen starteten eine Party. In allen Städten Brasiliens reagierten die Menschen erleichtert, auch am Strand von Iracema von Fortaleza knallte es gewaltig. Dabei zuckten die Menschen bisweilen doch zusammen, schließlich war vor ein paar Tagen ganz in der Nähe des Public Viewings ein siebenjähriger Junge angeschossen worden, als sich zwei Mitglieder rivalisierender Gangs mit echten Kugeln beschossen hatten. Eine davon hatte den Siebenjährigen in die Schulter getroffen. An diesem Montag blieb die Knallerei friedlich. Wenn die Brasilianer spielen, schauen offenbar auch Drogendealer lieber Fußball.

Luiz Felipe Scolari griff nach dem Spiel in den Literatur-Kasten, um den Fortgang seiner Mannschaft zu beschreiben: "Es gibt ein Sprichwort: Die Natur macht keine Sprünge. Wir entwickeln uns langsam, von Tag zu Tag, von Spiel zu Spiel." Ein Naturgesetz also. Und das soll lauten: Brasilien gewinnt die zweite WM im eigenen Land, nachdem der erste Versuch 1950 so tragisch schiefgegangen war. Nun wartet Brasilien sehnsüchtig auf die "Hexa", den sechsten Titel. Die ersten beiden Partien hatten den Glauben an diese Mission allerdings heftig getrübt.

Deshalb nutzte der schlaue Felipão, wie Scolari in Brasilien ehrfürchtig genannt wird, das 4:1 gegen Kamerun, um die Nation zu beruhigen. Der deutliche Sieg soll Schwung und Selbstvertrauen geben für das Achtelfinale. Das werden die Gastgeber brauchen. Am Samstag warten in Belo Horizonte die bissigen Chilenen.

Deren Mittelfeldspieler Arturo Vidal, beim 0:2 gegen die Niederlande geschont, gab sogleich die Richtung vor: "Wir wollten nicht gegen Brasilien spielen", sagte er, "aber Brasilien wollte noch viel weniger gegen uns spielen. Weil wir eine Mannschaft sind wie ein Selbstmord-Kommando. Wir geben unser Leben für diese WM."

Brasilien hielt den Atem an

Dabei spricht die Fußball-Historie deutlich gegen das schlanke Land. Dreimal hat Chile bisher die K.-o.-Runde einer WM erreicht und immer scheiterte es an Brasilien. 1962 im Halbfinale, 1998 und 2010 im Achtelfinale. Nun also wieder die Runde der letzten 16. Doch diesmal scheinen die Chancen der Chilenen so gut wie nie.

Trotz des deutlichen Sieges zeigten die Brasilianer in der Hauptstadt Brasília einige Schwächen. Felipão stand fast die gesamte erste Halbzeit am Rande seiner Zone und gestikulierte ins Spielfeld hinein. Spieler wie Hulk, Fred, Marcelo oder Dani Alves präsentierten sich weit weg von einer WM-Form. Die Mannschaft attackierte früh, doch wenn Kamerun dem Pressing widerstand, offenbarten sich dahinter riesige Lücken im Mittelfeld. So wäre die erste Halbzeit fast ausgeglichen verlaufen, hätte nicht wieder der tolle Neymar die Nation beglückt. Jede gelungene Offensivaktion ging über den eleganten Mittelfeldspieler. Seine Vorlagen blieben allesamt ungenutzt von den Mitspielern, dafür schoss er selbst zwei Tore. Beim 1:0 lenkte er eine Vorlage von Luiz Gustavo ins Netz (17.), beim 2:1 freute er sich darüber, dass Torwart Charles-Hubert Itandje freiwillig aus dem Weg sprang (35.).

Dazwischen lag diese typische Schwere über dem Stadion, wenn es bei Brasilien nicht läuft. Die Spieler wirkten gehemmt und ließen sich von den wenig imposanten Kamerunern häufig überspielen. Bei jedem Eckball hielt Brasilien den Atem an, einer flog vom Kopf Thiago Silvas an die eigene Latte. Der nächste landete über Umwege beim Schalker Joel Matip, der das 1:1 schoss (26.).

Hoffnung gibt dem Land die zweite Halbzeit. Felipão ermutigte seine Spieler, weiter zu attackieren. Das führte zur schnellen Entscheidung durch Freds 3:1 (49.). Es folgte endlich eine Phase, in der sich andeutete, dass Brasilien nicht nur aus Neymar besteht. Vor allem die Einwechselspieler Fernandinho (erzielte auch das 4:1, 84.), Ramires und Willian deuteten ihre Klasse an. Wenngleich die Gegenwehr Kameruns zunehmend nachließ.

"Wir haben sehr gut gespielt und unsere beste Leistung abgeliefert", erklärte der umjubelte Neymar nach dem Spiel. Auf die Frage, wie er denn mit dem Posten des wichtigsten Spielers der Mannschaft zurechtkomme, antwortete er brav: "Wichtigster Spieler? Das gibt es nicht. Die Mannschaft zählt."

Das Publikum sieht das freilich anders. Jeder Brasilianer scheint derzeit ein gelbes Trikot mit seinem Namen als Aufschrift zu besitzen. Seine Sonderstellung ist in jedem der drei bisherigen Spiele überdeutlich gewesen. Neymar ist schnell, trickreich, setzt die Mitspieler ein, führt mit vier Toren die Schützenliste der WM an.

Der riesige Druck im Gastgeberland prallt bislang von ihm ab, er spielt wesentlich besser als bei seinem Klub FC Barcelona. In seiner Nationalelf bekommt er alle Freiheiten, Neymar taucht überall auf dem Spielfeld auf und ist von den Gegnern bislang nicht zu fassen. Er darf sich fühlen wie ein Schmetterling unter Raupen, was den durchaus eitlen Star so beflügelt, dass er in der Halbzeit im Kabinengang Fotos mit Ordnern machen ließ und sein Trikot dem gesperrten Barça-Mitspieler Alex Song schenkte. Der soll schließlich auch das richtige Souvenir mit nach Hause nehmen.

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