Brasilien:Ganz großes Theater

Brazil v Mexico: Round of 16 - 2018 FIFA World Cup Russia

Als erwarte er die letzte Ölung: Neymar (am Boden) wird von Schmerzen heimgesucht. Oder sind es Phantomschmerzen?

(Foto: Clive Rose/Getty Images)

Neymars Fußballkunst bleibt ein Spektakel bei dieser Weltmeisterschaft, selbst wenn Basiliens Ballzauberer zu Boden sinkt - und damit viel Wirbel auslöst. Ihm selbst scheint das maximal egal zu sein.

Von Javier Cáceres, Samara

Im Zentrum von Samara steht eine Sojus-Rakete, eine Reminiszenz an die Luft- und Raumfahrtindustrie der Stadt, die dort große Tradition hat. Der sowjetische Kosmonaut Juri Gagarin wurde 1961 in einem Raumschiff ins All geschickt, das in Samara zusammengeschraubt worden war. Wer weiß, ob Juan Carlos Osorio, der Trainer der Mexikaner, Zeit hatte, sich mit den Sehenswürdigkeiten Samaras zu befassen, ob sie ihn inspirierten. Am Montagabend war ihm jedenfalls danach, einen Mann zum Mond zu schießen, der mit der 0:2-Niederlage seiner Mannschaft gegen Brasilien im Achtelfinale der WM eine Menge zu tun gehabt hatte: Neymar Júnior.

Eine Frage reichte schon, um Osorio im Presseraum der Arena in Samara explodieren zu lassen: die Frage, warum seine mexikanische Mannschaft nach der Halbzeitpause an Vehemenz verloren hatte.

Das habe damit zu tun gehabt, dass der Schiedsrichter einen voreingenommenen Blick auf die Partie gerichtet habe, schäumte Osorio - und redete sich in Rage. Fußball sei "ein Sport der Virilität und Entschlossenheit" und nicht der "Clown-Einlagen"; es könne nicht angehen, dass man "wegen eines Spielers" so viel Zeit verliere. Jede Spielunterbrechung habe sich in die Länge gezogen, einmal sogar vier Minuten lang. Sprach's - und hatte es angeblich doch nicht auf den teuersten Fußballer des Planeten gemünzt haben wollen: "Das ist Ihre Interpretation! Ich habe den Namen nicht genannt!", herrschte er einen Journalisten an, der ihn gefragt hatte, ob er etwa über Neymar gesprochen habe.

Natürlich aber hatte Osorio, wie jeder im Saal wusste, im Allgemeinen und im Besonderen über einen Zwischenfall geredet, der sich in der zweiten Halbzeit zugetragen hatte: Neymar war gefoult worden, lag am Spielfeldrand am Boden, der mexikanische Verteidiger Miguel Layún ging auf ihn zu - und trat ihm auf den Knöchel.

"Ein schlimmes Beispiel für die Kinder", wetterte Mexikos Trainer - und meinte das Zeitspiel

Das war ohne jede Diskussion eine Aggression, über eine rote Karte hätte sich Layún nicht beschweren können. Aber: In seiner Intensität war der Tritt in etwa der Landung einer Stubenfliege auf einem Handrücken zu vergleichen. Dennoch schrie Neymar auf und wälzte sich auf dem Rasen, als ob ihm gerade die Haut abgezogen würde - oder als ob er mindestens die Symptome einer Männergrippe verspürte. Doch es war natürlich, wie so häufig bei ihm, nicht einmal ein Zehntel so schlimm. Der Schiedsrichter ließ die Szene vom Videoassistenten überprüfen und gelangte zu einem ähnlichen Schluss: Layún kam ohne Karte davon. Gemessen an den Reaktionen von Osorio: zum Glück.

"Das ist eine Schande für den Fußball und ein schlimmes Beispiel für die Kinder, die zuschauen", schäumte Osorio. Auch Miguel Layún war außer sich. Er habe nur den Ball holen wollen, sprach er, "wenn er keinen Kontakte will, soll er sich einen anderen Sport suchen: Fußball ist was für Männer". Sein mexikanischer Kollege Andrés Guardado fragte sich, ob der Schiedsrichter, Gianluca Rocchi aus Italien, nur deshalb alle zweifelhaften Szenen zugunsten Brasiliens gepfiffen habe, "weil die großen Stars" (wie Lionel Messi oder Cristiano Ronaldo) "mit ihren Mannschaften schon ausgeschieden sind".

Neymar wiederum musste seine Gedanken für sich behalten. Weil er zum wertvollsten Spieler der Partie gewählt worden war, saß er neben seinem brasilianischen Trainer Tite in der Pressekonferenz, und sein Vorgesetzter grätschte verbal dazwischen, um jeden falschen Zungenschlag zu vermeiden. "Aus Gründen der Hierarchie" antworte ein Spieler einem Spieler, ein Trainer aber einem Trainer, erklärte Tite - und sagte, dass man nichts zu sagen brauche: "Es langt, die Bilder zu sehen."

Neymar durfte sich - jenseits der Versicherung, dass er wirklich einen "Schmerz" verspürt habe - lediglich in allgemeinen Phrasen zum Wirbel um seine Person äußern, der weder neu ist, noch Anzeichen abzuebben zeigt. "Ich höre nicht auf die Kritiken und auch nicht auf das Lob, das beeinflusst den Kopf eines Athleten", sagte er. Nach den vorangegangenen Spielen habe er geschwiegen, weil er jede Form von Polemik vermeiden wollte. "Ich muss nur Fußball spielen, meiner Mannschaft helfen. Ich bin hierher gekommen, um zu gewinnen, für nichts anderes."

Die Chancen, dass er dieses Ziel erreicht, stehen gut. Neymar nähert sich im gleichen Maße der 100 Prozent seiner Leistungsfähigkeit, wie die Seleção sicherer agiert. Beim 2:0 gegen Mexiko erzielte er ein Tor selbst, das er mit einem Hackentrick auf Willian eingeleitet hatte (51.), das 2:0 durch den früheren Hoffenheimer Roberto Firmino bereitete er vor (88.).

Hätte Willian nicht in Samara seinem Spitznamen "Foguetinho", Raketlein, mit einer brillanten zweiten Halbzeit alle Ehre gemacht, hätte Brasiliens Defensive gegen die 25 Minuten lang sehr überzeugenden Mexikaner nicht so solide gestanden - Neymar wäre der fußballerische Hauptdarsteller einer Partie gewesen, in der Brasilien zum siebten Mal in Serie ins WM-Viertelfinale vorstieß. Aber er war eben nicht wegen seiner Kunst, sondern wegen seiner niedrigen Schmerzschwelle der Hauptprotagonist des Spiels. Seine Theatralik trägt fast schon Züge eines Ticks. Wenn man ihm etwas zugute halten will, dann dies: Im bisherigen Turnierverlauf sind in vier Spielen 23 Fouls an Neymar gepfiffen worden. Als das in einen Zusammenhang mit seinem als aufreizend empfundenen Spielstil gestellt wurde, war es sein Coach Tite, der ungehalten wurde: "Er liebt es zu spielen, er liebt es zu dribbeln. Und manchmal ruft das Unverständnis bei den Gegenspielern hervor, weil er so agil und schnell ist." Aber, fragte Tite: Ist es "eine Sünde", im letzten Drittel des Spielfeldes zu dibbeln? Ist es "eine Sünde, Solos anzustreben"?

Das ist es natürlich nicht. Neymar ist und bleibt ein Spektakel, wenn er den Ball am Fuß hat. Am Tag nach dem Scheitern der sterilen Kunst der Spanier legte er Zielstrebigkeit und Mut an den Tag, riss die Bälle an sich, wirbelte die Mexikaner durcheinander, die nun schon zum siebten Mal seit 1994 im Achtelfinale einer Weltmeisterschaft scheiterten. Und das nach dem 1:0-Sieg gegen die deutsche Mannschaft im Auftaktspiel der Gruppenphase.

Auch das wird, wie üblich, einen Umbruch nach sich ziehen. Mexikos Trainer Osorio ließ offen, ob er weitermacht; andere Spieler werden die Auswahl nun endgültig verlassen, allen voran der 39-jährige Kapitän Rafa Márquez, der in der ersten Halbzeit eine sehr ansprechende Leistung bot. Doch auch andere Spieler überlegen, der Nationalelf den Rücken zu kehren, darunter Innenverteidiger Carlos Salcedo, was seinen Arbeitgeber Eintracht Frankfurt freuen dürfte. Denn dann dürften seine schlauchenden, transatlantischen Länderspielreisen der Vergangenheit angehören.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: