Mike Tyson:Was vom Bösen bleibt

Mike Tyson: Mike Tyson mit Taube in seinem Garten (Archivbild): Über seine Karriere sagt er: "Ja, ich habe all das gemacht. Ja, ich habe viel gesehen. Und trotzdem ich bin noch lebendig."

Mike Tyson mit Taube in seinem Garten (Archivbild): Über seine Karriere sagt er: "Ja, ich habe all das gemacht. Ja, ich habe viel gesehen. Und trotzdem ich bin noch lebendig."

Mike Tyson war der gefürchtetste Boxer des Planeten. Dann saß er im Gefängnis, biss Evander Holyfield ins Ohr und verprasste 300 Millionen Dollar. Jetzt geht er mit seiner Geschichte auf Tour - und ist sich dabei selbst fremd geworden.

Von Benedikt Warmbrunn

Als Mike Tyson zehn Jahre alt war, überfiel er alte Frauen in Aufzügen, verprügelte sie, raubte sie aus. Als er 20 Jahre alt war, gewann er als jüngster Schwergewichtsboxer der Geschichte die Weltmeisterschaft. Als er 30 Jahre alt war, biss er seinen Gegner Evander Holyfield ins Ohr. Als er 40 Jahre alt war, war er bankrott. Jetzt, mit Anfang 50, lebt Mike Tyson davon, dass er einmal ein Zehnjähriger, ein Zwanzigjähriger, ein Dreißigjähriger und ein Vierzigjähriger war. Er lebt davon, dass er all diese Jahrzehnte überlebt hat.

Ein Abend im April, ein Hotel am Englischen Garten in München, zwei Stunden vor dem Auftritt. Mike Tyson hat sich in den "Salon Picasso" zurückgezogen, ganz ans Fenster, dort klebt er auf einem Stuhl. Auch zur Begrüßung bleibt er kleben, es erhebt sich allein seine riesige rechte Pranke, die einem flauschig die Hand umhüllt. Auf seinem Knie liegt ein kleines Handtuch. Tyson, 51, sagt: "Wenn ich an all das, was ich erlebt habe, zurückdenke, dann denke ich darüber auf eine gute Art nach. Ja, ich habe all das gemacht. Ja, ich habe viel gesehen. Und trotzdem ich bin noch lebendig."

Der Abend in München ist die zweite Station auf seiner ersten Tournee durch Deutschland, Österreich und die Schweiz, am Abend zuvor war er in Wien, in der Nacht geht es weiter nach Zürich, zehn Auftritte in zwölf Tagen. Laut Ankündigung erzählt Tyson dabei die "unglaubliche wahre Geschichte des besten Boxers der Welt"; mit einer ähnlichen Version war er vor sechs Jahren am Broadway aufgetreten, unter der Regie von Spike Lee, die Kritiken waren wohlwollend. 2014 veröffentlichte er seine Autobiografie "Unbestreitbare Wahrheit", im vergangenen Jahr folgte ein Buch über die Jahre mit seinem ersten Trainer, Cus D'Amato.

Am Hotelfenster, in der Abendsonne, tänzeln auf Tysons Stirn kleine Schweißperlen. Seine kastanienbraunen Augen fixieren einen, er blickt nicht weg, er blinzelt fast nie. Er kennt das Reden über seine Geschichte, er kennt alle Fragen, er kennt alle Antworten. Es wird ein Gespräch wie seine frühen Kämpfe, Schlag auf Schlag, keine Pause, zwölfeinhalb Minuten lang. Zu Beginn sagt er: "Wir können über alles reden." Mit dem Handtuch wischt er sich den Schweiß von der Stirn.

Die billigen Tickets für den Abend mit Mike Tyson kosten 449 Euro

Schon als junger Mann hatte Tyson begriffen, dass ein Boxer nicht in erster Linie ein Athlet ist, sondern eine literarische Figur. Tyson, der als Siebenjähriger die Schule abgebrochen hatte, sprach wie ein Straßenintellektueller aus Brooklyn, am liebsten sprach er über die Dunkelheit in sich selbst. Er sagte zum Beispiel: "Ich bin nur ein dunkler Typ aus dem Sündenpfuhl." Als sein Vorbild bezeichnete er Sonny Liston, in den 1960er-Jahren der Böse des Schwergewichtsboxens, dem 1962 John F. Kennedy eine Niederlage wünschte, den Cassius Clay als "großen, hässlichen Bären" beschimpfte, der unter mysteriösen Umständen starb, als 38-Jähriger, mit einer Nadel im Arm. Liston wurde nie akzeptiert, aber er wurde gefürchtet. Respekt, das hatte auch Tyson auf der Straße gelernt, bekommt man nur durch Gewalt. Also lautete seine Botschaft: Fürchtet euch!

Die meisten seiner Kämpfe gewann er vor dem ersten Gong, er biss Lennox Lewis auf einer Pressekonferenz in den Oberschenkel, er kündigte den Kindern seiner Gegner Schmerzen an, und er hatte diesen irren, wahnsinnigen Blick eines Pitbulls.

Nun, mit Anfang 50, nach zwei Haftstrafen, zwei Scheidungen, eineinhalb Jahrzehnten in den Schulden, erzählt er seine Geschichte mit einer anderen Botschaft. Sie lautet nun: Fürchtet euch nicht mehr!

Auf Aufzeichnungen seiner Auftritte am Broadway ist ein Mann zu sehen, der sich über sich selbst lustig macht, der zwar ein bisschen steif läuft, aber weiterhin beweglich ist, vor allem in jenem Oberkörper, mit dem er schon zu Beginn seiner Karriere so vielen Schlägen ausgewichen ist, und dann war er auf einmal nah dran am Gegner und konnte ihn mit seinen kurzen Armen attackieren. Der Mike Tyson vom Broadway genießt es, sich selbst nicht mehr allzu ernst nehmen zu müssen. Er hat einen neuen Weg gefunden, um respektiert zu werden: seinen Humor.

"Ich liebe es zu lächeln", sagt Tyson am Hotelfenster, "als ich ein Fighter war, habe ich nie gelächelt. Jetzt als normaler Bürger lächle ich sehr viel. Es sind zwei verschiedene Leben, zwei verschiedene Welten." Ob er sich als humorvoll bezeichnen würde? "Ich glaube, ich habe einen guten Sinn für Humor." Wie dieser aussehe? "Kann ich nicht sagen. Ich verstehe Humor nicht wirklich. Eigentlich rede ich einfach nur, und manchmal lachen die Leute eben." Genießt er die Auftritte auf der Bühne? "Ich fühle mich dort ziemlich normal, es fühlt sich so an, als ob ich auf die Bühne gehöre." Das einzige Mal im Gespräch macht Tyson eine kurze Pause. "Aber es fühlt sich auch so an, als ob ich über das Leben eines anderen Menschen rede."

Mike Tyson hat seine Lebensgeschichte erzählt und erzählt und erzählt. Er hat sie so oft erzählt, dass ihm dieser Mensch, dessen Leben er nacherzählt, irgendwann fremd geworden ist.

"Heute bin ich im Licht. Ich sehe jetzt alles klar"

Vielleicht lässt es sich nur ertragen, Mike Tyson mit 51 zu sein, wenn man den Mike Tyson der ersten 40 Jahre als Kunstfigur sieht. Den Jungen, der als Zwölfjähriger 38 Mal von der Polizei festgenommen worden war. Den jungen Boxer, der zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, weil er eine Kandidatin bei einem Schönheitswettbewerb vergewaltigt hatte. Den nicht mehr ganz so jungen Boxer, der in einem einzigen irren, atemlosen Schlagabtausch lebte. Der besinnungslos soff, der kokste, der Nutten bestellte, angeblich einmal 24 für eine Nacht. Der 300 Millionen Dollar verprasste, alleine bei einem einzigen Einkauf bei Versace 150 000. D'Amato, sein wichtigster Trainer, sein Ersatzvater, hatte ihn davor bewahrt, ein Krimineller zu bleiben. Aber er hatte ihn nie von dieser kriminellen Energie befreit. "Cus wünschte sich den gemeinsten Boxer, den Gott jemals erschaffen hatte", hat Tyson geschrieben. Und Tyson war dankbar, dass er all den Hass, die Wut, die Selbstzweifel wegprügeln durfte.

"Das Boxen hat viel für mich gemacht, aber es war nicht gut für mich", sagt Tyson in München, "es hat mir ein riesiges Ego gegeben, es hat einen arroganten Typen aus mir gemacht. Und ich bin nicht die Art von Mensch, die in der Position sein sollte, ein überlegener Kerl zu sein. Manchmal verliere ich nämlich den Verstand." Ob er heute noch diese dunkle Kraft in sich spüre? "Heute bin ich im Licht. Ich sehe jetzt alles klar." Wann ihm der Übergang gelungen sei? "Als meine Tochter gestorben ist." Im Mai 2009 strangulierte sich die damals Vierjährige an der Kordel eines Laufbandes - das Thema hatte der Manager vorab verboten, genauso wie die Vergewaltigung. Wenn er über diese Geschichten nachdenkt, packt Tyson die Dunkelheit manchmal noch, er verfällt dann wieder in die Verhaltensmuster des Straßenjungen. Nun spricht Tyson es selbst an, er bleibt ruhig. "Nach ihrem Tod habe ich mein Leben geändert. Davor habe ich mich wie ein typischer Macho verhalten, mit allem, was dazugehört. Jetzt bin ich demütiger. Ich habe nicht mehr viel an Leben übrig. Und dabei möchte ich glücklich sein." Das Schweißtuch ist inzwischen nicht mehr trocken, er rubbelt sich über die Stirn.

Als das Gespräch vorbei ist, geleitet Tysons Manager Nick aus dem Zimmer. Er sagt, dass er sich einen guten Text erhoffe, sonst sehe man sich im Ring wieder. Das wäre eine Freude. Auf diese Antwort hin kommt erstmals richtig Bewegung in den Mann am Fenster. Tyson bellt vor Lachen, er schüttelt sich.

Eine halbe Stunde später, in einem Saal im Erdgeschoss des Hotels, noch wenige Minuten bis zum Auftritt. 34 Tische stehen im Saal, Karten gab es für 449 Euro (Kategorie: Gold) oder für 469 Euro (Iron) oder je nach Verhandlungsgeschick. An Tisch 33 sitzen auch: ein Vater und sein 18 Jahre alter Sohn aus Bozen, die den Moderator des Abends kennen; Mirza, ein junger Boxer aus München, der auch als Model sowie für Greenpeace arbeitet, und der alleine gekommen ist, weil er niemanden gefunden hat, der ebenfalls so viel Geld ausgeben wollte; ein sizilianischstämmiges Gastronomenpaar aus Kempten, das einen gewissen "Ali aus dem Allgäu" sponsort, gekommen sind sie nur, weil der Mann die Tickets schon gekauft hatte. Auf den vier anderen Stühlen sitzt niemand. Andere Tische bleiben komplett frei, an Tisch 7 trinkt ein Mann alleine sein Bier.

Der Auftritt beginnt mit einem Fototermin mit Tyson. Linke Hand auf die Schulter, mit rechts ein flauschiger Griff, Lächeln, zwei Sekunden lang, der Nächste, bitte. Den Reporter, dem er keine Stunde zuvor zwölfeinhalb Minuten lang ununterbrochen in die Augen gestarrt hatte, erkennt Tyson nicht wieder. Nach einer halben Stunde Händeschütteln zieht er sich noch einmal zurück in den "Salon Picasso".

Lebhaft wird er nur, als er über den Biss spricht

Wenige Minuten später eröffnet der Moderator, ein Südtiroler, die eigentliche Show, er brüllt ins Mikrofon, dass der Saal nun bitte the baddest man on the planet begrüßen möge. Lauter Applaus, die Leute stehen auf. Der böseste Mann des Planeten schleppt sich mit langsamen, schwerfälligen Schritten in den Saal, die Arme baumeln, der Kopf hängt leicht nach vorne. Er setzt sich auf einen Hocker. Dort wird er 90 Minuten lang kleben bleiben, er wird nicht herumlaufen, er wird nicht mit dem Oberkörper pendeln, er wird ausschließlich den Moderator fixieren. Die Käufer der Gold- und der Iron-Tickets wird er nicht einmal anschauen.

Die Frage, die über diesem Abend schwebt, lautet auch: Wenn einer fast alles Böse auf dieser Welt gemacht hat, wenn er all dem entsagt - was bleibt dann noch übrig? An diesem Abend ist es allein die Erinnerung daran, wie lebendig, wie unterhaltsam der böse Tyson war.

Der Moderator stellt lange, wohlwollende Fragen, er bekommt kurze Antworten. Tyson wirkt müde. Selten redet er einfach drauflos, und so lachen auch die Leute nur selten. Als er erzählt, dass er nach seiner ersten Hochzeit weiterhin Freundinnen hatte, gibt es lauten Applaus. Als er sagt, dass er Holyfield 1996 nicht nur einmal gebissen habe, sondern zweimal: wieder lauter Applaus. Als es um seine Stiftungen geht: höflicher Beifall. Lebhafter wird Tyson allein, als es um den zweiten Holyfield-Kampf geht, die Gäste bekommen da gerade Bayerische Creme mit marinierten Früchten serviert. Tyson richtet sich in seinem Stuhl auf, seine Stimme wird kräftiger, "das Ohr", sagt er, "hat richtig schlecht geschmeckt". Nach sieben Gesprächsrunden schlurft er wieder aus dem Saal.

Eine halbe Stunde später verlässt Tyson das Hotel, drei Fans, doppelt so viele Bodyguards. Einer kommt dennoch zu Tyson durch, er lässt sich für seinen Sohn Boxhandschuhe signieren. Danach steigt Tyson in den Bus, lässt sich in den Sitz fallen, schließt die Augen. Dann lässt er sich durch die Dunkelheit fahren.

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