Boxen:Untergang in der Mandalay Bay

Nach seiner schweren k.o.-Niederlage gegen Lamon Brewster steht Wladimir Klitschkos Boxkarriere infrage.

Von Bertram Job

Fast hätte Robert Byrd den Koloss noch aufgefangen am Ende dieser fatalen fünften Runde - ganz so, als wüsste er, wen der übertragende Pay-per-View-Fernsehsender als Sieger dieses Titelkampfes favorisiert. Dann aber besann sich der Ringrichter seiner Neutralität und ließ Dr. Wladimir Klitschko ungebremst auf den Boden der Tatsachen sinken.

Boxen: Bereit zum Auszählen: Dr. Wladimir Klitschko.

Bereit zum Auszählen: Dr. Wladimir Klitschko.

(Foto: Foto: AP)

Da unten, auf der Plane des Rings im Mandalay Bay Hotel in Las Vegas, kam der angeschlagene Boxer nicht wieder richtig zu sich: die Augen offen, der Blick jedoch glasig, müde und entrückt. So winkte der Unparteiische den Kampf als beendet ab - und besiegelte damit ein unvermutetes Desaster.

Der Griff des "kleinen" Klitschko nach dem vakanten Gürtel der World Boxing Organisation (WBO) war eigentlich als triumphaler Auftakt zu einer Art Weltrekordversuch im Profiboxen vorgesehen. Binnen zwei Wochen durch zwei Titelkämpfe in den USA Champions im Schwergewicht zu werden - das war der ehrgeizige Fahrplan von Vitali und Wladimir, den ukrainischen Brüdern.

In entscheidenden Momenten ist er immer noch ein Greenhorn

Doch in der Nacht zum Sonntag ist Teil eins des tollkühnen Unternehmens auf spektakuläre Weise gescheitert. Und das lag weniger an Lamon Brewster aus Los Angeles, der an diesem Abend vor rund 10000 Zuschauern einen passablen, aber limitierten Widersacher gab. Es lag an Klitschkos seltsamer Art, sich auch nach nun 45 Profikämpfen (42 Siege) im entscheidenden Moment noch immer wie ein Greenhorn anzustellen.

Geballtes Fachwissen war in der Ecke des 28-jährigen, der sich vor diesem Showdown so konzentriert wie nie gab. Konditionell wird er weiter vom Hamburger Coach Fritz Sdunek aufgebaut, doch die Feineinstellung lag erstmals bei Emanuel Steward. Der Trainer aus Detroit gilt als der beste "Repair man" für Klasseboxer in der Krise; er hat schon Klienten wie Oscar De La Hoya und Lennox Lewis aus Talsohlen herausgeholt.

So erschien er bestens geeignet, dem hochveranlagten Wladimir einen besseren linken Haken und mehr Zuversicht einzuflößen. Dennoch zogen einige aus dem Stab des Hamburger Promotion-Unternehmens Universum über Stewards Ankündigung, dem Schützling einen offensiveren Stil vermitteln zu wollen, die Brauen hoch.

Spätestens seit seiner demütigenden Niederlage gegen Corrie Sanders im Vorjahr sorgt man sich um Wladimirs Kinn - und damit seine Kampfmoral. In der Arena des Mandalay Bay aber machte Klitschko der Jüngere zunächst beinahe alles richtig. Mit beweglichen Beinen und konstanter Führhand ließ er die wilden Anfangsattacken Brewsters wirkungslos verpuffen, um sehr bald selbst den Kampf zu diktieren.

In dieser Phase zeigte der Modellathlet, dass sein Potenzial wohl das beträchtlichste in der Schwergewichtsszene ist. Die Ringsider gaben ihm sämtliche der vier Anfangsrunden, und Chefcoach Steward lobte in den einminütigen Pausen: "Beautiful fight!" (Wunderbarer Kampf!) Eine dreifache Kombination ließ den technisch deutlich unterlegenen Amerikaner in der vierten Runde dann erstmals zu Boden gehen.

Klitschko war nun dem Anschein nach gerade zwei, drei Wirkungstreffer von einem vorzeitigen Sieg und der Rückeroberung des WBO-Titels entfernt.

Hängende Arme, hechelnder Mund

Doch als es galt, seine immensen Kräfte abzurufen, verließen sie ihn. Zum Schluss der Runde taumelte Klitschko nicht weniger benommen zu Boden wie der stolpernde Brewster.

Und in der fünften Runde drehte sich das Blatt endgültig: Mit hängenden Armen und hechelndem Mund ließ der 4:1-Wettfavorit sich von mehreren wuchtigen Haken des hartnäckigen Gegners regelrecht abschießen. Seine bisherige Überlegenheit, die eindeutige Trefferstatistik, die ihm später 120 erfolgreiche Schläge gegenüber 43 von Brewster bescheinigen sollte - das alles war jetzt nur noch Makulatur.

Klitschko brauchte besorgniserregend lange, um sich nach dem Abbruch aus seiner Apathie zu befreien. Eine ärztliche Untersuchung folgte nur den strengen Vorschriften der Nevada State Athletic Commission. Doch über die Gründe für den krassen Konditionsabfall wurde von Stunde an heftig spekuliert.

Jean-Marcel Nartz, Technischer Leiter im Universum-Boxstall, wollte von sechsfach überhöhten Blutzuckerwerten gehört haben - und schloss daraus, Klitschko könnte an Diabetes erkrankt sein. Universum ließ durch Pressesprecher Rybarczyk dementieren: "Wilde Spekulationen", tags darauf bestätigte aber Vitali Klitschko, dass der Bluttest bei seinem Bruder ein ungewöhnliches Ergebnis gezeitigt habe: "Sein Zuckerspiegel lag um das Vierfache über der Norm.

Und da sind einige andere Dinge, die nicht normal waren. Ich möchte keine Rückschlüsse ziehen. Wir warten auf die komplette Analyse." Niemand bei Universum wollte in dieser Nacht eine Prognose über die weitere Ringkarriere des jüngeren Klitschkos abgeben. Sdunek riet zunächst zu einer Denkpause von "mindestens einem halben Jahr".

Promoter Kohl wollte lieber auf den nächsten Höhepunkt in 14 Tagen verweisen, wenn Vitali Klitschko in Los Angeles mit dem 38-jährigen Südafrikaner Corrie Sanders um den von Lennox Lewis niedergelegten WBC-Gürtel streitet. Der als nervenstärker gehandelte große Bruder ist nun in Zugzwang, für die Amerika-Pläne seines Promoters und die "Ehre" der Familie die Kohlen aus dem Feuer zu reißen.

Das trauen ihm Experten auch zu. Doch die Vision von den Brüdern als simultanen Champions ist bis auf weiteres geplatzt, wie Amerikas Medien nicht ohne einen Anflug patriotischer Schadenfreude konstatieren. So heißt es auf der renommierten Webside Seconds Out: "Dieser Familientraum hat sich als Mythos bestätigt."

(SZ vom 13.4.2004)

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