Boxen im sozialen Brennpunkt:Mit sieben Feuern

Ein Ex-Profiboxer betreibt in Münster ehrenamtlich ein Boxzentrum für kriminelle Jugendliche. Und hilft ihnen damit auf dem schweren Weg zurück ins Leben.

Rafael Buschmann

Von draußen hört man es ganz deutlich - rhythmisch, hart und laut prasseln die Schläge auf den Sandsack. Drinnen ist es dunkel, es riecht nach Schweiß. Alles deutet auf eine typische Boxbude hin - heruntergekommen, alt und zweckmäßig. Doch der Sport ist beim SV Post-Telekom Münster zumeist nur zweitrangig. Es geht um mehr.

Boxen im sozialen Brennpunkt: "Ich wollte mich für die Straße rüsten." Pinto Jörling kam durch das Boxen bei Farid Vatanparast allerdings weg von der Straße.

"Ich wollte mich für die Straße rüsten." Pinto Jörling kam durch das Boxen bei Farid Vatanparast allerdings weg von der Straße.

(Foto: Foto: Buschmann)

Seit 2007 existiert die Boxabteilung in Münsters Norden. In einem Stadtteil, der nicht den besten Ruf genießt, ein so genannter sozialer Brennpunkt. Genauso schwierig wie Münster-Coerde sind auch die Athleten der Boxabteilung. Drogen, Körperverletzung, Erpressung - kaum ein Jugendlicher ist nicht irgendwann mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Kein angenehmes Pflaster. Schon gar nicht, um dort jeden Tag seine komplette Freizeit zu verbringen.

Doch für Farid Vatanparast ist es eine Herausforderung. Der Deutsch-Iraner holte vor zweieinhalb Jahren die Boxabteilung förmlich aus dem Nichts und füllte sie mit Leben. Ehrenamtlich, ohne einen Euro mit diesem Projekt zu verdienen, steht der Gastronom jeden Nachmittag in der Sporthalle. Wenn er in seinem Wagen vor die Tore der Anlage fährt, stehen häufig schon Jugendliche davor und erwarten ihn. "Die Kids sehnen sich nach jemanden, der sie ernst nimmt. Aber auch nach jemanden, der sie fordert und ihnen Ziele gibt. Wir geben ihn hier noch einmal eine Chance, um zurück ins Leben zu finden", sagt Vatanparast.

Er wirkt freundlich, belässt aber eine gewisse Distanz zu seinen Athleten. Er ist nicht ihr Freund. Er ist ihr Trainer, ihr Nachhilfelehrer und sehr häufig ihre Vaterfigur - Vatanparast vereint die widersprüchlichsten Facetten. Und er ist Konsequent. Benimmregeln und gegenseitiger Respekt sind die Grundlage, wer sich nicht daran hält, bekommt den anderen Vatanparast zu spüren. Einen, der es gelernt hat zu kämpfen und der keinem Kampf mit seinen Schülern aus dem Weg geht.

"Ich habe nur das Straßen-Abitur"

Und dies ist auch notwendig. Denn die meisten seiner Athleten haben keinen Schulabschluss oder sind mit größter Mühe durch die Hauptschule gekommen. Disziplin, Ehrlichkeit, Ordnung sind für sie mehr Mythen als Tugenden. "Eigentlich habe ich nur das Straßen-Abitur", sagt Pinto Jörling, der tatsächlich Friedrich heißt, aber so nennt ihn niemand.

Der 25-Jährige begann mit 13 Jahren zu kiffen, mit 16 war er ecstasy- und kokainabhängig, mit 19 hing er an der Nadel - Heroin war sein Leben. "Ich war nichts mehr wert", sagt der ehemalige Sonderschüler. Schlägereien, Drogenhandel - das Geld zum Überleben war immer mit Gewalt verbunden. Die Polizei erwischte ihn: Drei Jahre Bewährung waren die Konsequenz. "Das war mir alles egal", sagt Jörling, der mehrfach an Therapien zur Sucht- und Depressionsbekämpfung teilnehmen musste. "Das hat doch nichts gebracht. Ich bin immer wieder mit meinen alten Freunden in Kontakt geraten - und dann haben wir halt zusammen ein Näschen gezogen."

Mit sieben Feuern

Als der Boxclub vor seiner Haustür öffnete, ging Jörling hin. "Ich wollte mich für die Straße rüsten." Dort traf er auf Vatanparast. Der 29-Jährige hatte kurz zuvor die schlimmste Phase seines Lebens hinter sich. Als Kaderboxer der deutschen Nationalmannschaft stand er bereit, 2004 nach Athen zu den Olympischen Spielen zu fahren. Zudem war ein hochdotierter Profivertrag mit dem legendären Promoter Ebby Thust frisch unterschrieben, Vatanparasts sportliche Karriere florierte. Doch auf dem Weg vom Training bei seinem Heimatclub BSK Ahlen nach Münster passierte es: ein LKW-Fahrer schnitt die Mittellinie und krachte frontal mit Vatanparast zusammen.

Boxen im sozialen Brennpunkt: Trainer und Lehrer: Farid Vatanparast (r.) mit einem seiner Schüler.

Trainer und Lehrer: Farid Vatanparast (r.) mit einem seiner Schüler.

(Foto: Foto: Buschmann)

Unterricht vor dem Training

Die Karriere war vorbei, die Sehnerven im linken Auge tot. "Ich war danach manisch-depressiv", erklärt Vatanparast, der 20 Kilogramm in zwei Monaten zunahm und sich an manchen Tagen nur noch den Tod wünschte. Als sein Arzt und Mentor Dr. Thelen ihm die Idee vom Boxtraining mit Jugendlichen erzählte, war Vatanparast nicht sofort begeistert - etwas fehlte ihm. Der damalige BWL-Student wollte den Jugendlichen mehr geben. Er entwickelte im Studium die Theorie der sieben Feuer: Motivation, Zielsetzung, Wille, Disziplin, Mut, Authentizität, Toleranz - jedes für sich stellt eine Hürde dar und muss nacheinander überwunden werden. Das machte er zur Leitidee seiner Boxabteilung.

"Ich habe hier gelernt, zu lernen. Das kannte ich früher nicht", erklärt Tatjana Wagner, deren Vergangenheit sich von der Jörlings nicht nennenswert unterscheidet. Gemeinsam mit bis zu 20 anderen Jugendlichen muss sie vor jedem Training am Unterricht teilnehmen. Hausaufgabenbetreuung, Bewerbungstraining, Allgemeinbildung - mindestens zwei der insgesamt 18 ehrenamtlichen Mitarbeiter zeigen den Kids neue Wege. Und immer dabei: Vatanparast.

Der Trainer sitzt in seinem Büro, die Tür ist offen. Jugendliche kommen herein, stellen Fragen. Vatanparast nimmt sich die Zeit, ist einfühlsam - doch nur bis 17 Uhr. Denn dann geht's in die Halle. Der Trainer setzt zum rauen Ton an, niemand bekommt Extrawürste. Kleine, Große, Dicke, Dünne, Migranten, Deutsche, Jungen, Mädchen - sie alle trainieren zusammen, niemand redet über Probleme mit der Vielfalt. Und sie sind erfolgreich: 18 Westfalen-Meistertitel, sechs Teilnehmer bei deutschen Meisterschaften - davon drei Medaillengewinner - und einen dritten Platz bei den Europameisterschaften der Jugendlichen.

Zudem hat Vatanparast gemeinsam mit seinen nunmehr 76 Jugendlichen Zukunftspläne erstellt, an denen jeder einzelne arbeiten muss. 30 seiner Schützlinge haben mittlerweile Arbeit gefunden, fast alle Zeugnisse weisen erheblich bessere Noten auf. "Ich bin wieder Herr meines Lebens", sagt Jörling, der seinen Hauptschulabschluss nachmachte und jetzt sogar eine Ausbildung zum Sport- und Fitnesskaufmann meistert. Doch was ist das Geheimnis des SV Telekom-Post? "Wir nehmen die Kids ernst, fördern ihre Stärken. Wir wollen niemanden verändern, sondern ihm zeigen, wer er wirklich ist", sagt Vatanparast. Doch die Kids beantworten die Frage kürzer, nur mit einem Wort: "Farid."

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: