Boxen:Dank einer stillen Heldin

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"The Bavarian Sniper": Der Traunreuter Boxer Serge Michel vertrat Deutschland bei den Olympischen Spielen in Rio. Jetzt, im besten Boxeralter, will er bei den Profis um einen WM-Gürtel kämpfen. (Foto: imago/Marianne Müller)

Serge Michel aus Traunreut boxt als erster Bayer seit 44 Jahren bei Olympia. Er gilt als einer der schlagkräftigeren Jungs seiner Gewichtsklasse.

Von Johannes Kirchmeier

Wenn Serge Michel sich auf den Weg macht, um seinem Sport nachzugehen, dann fällt ihm das nicht leicht. Michel ist Boxer. Aber Michel ist auch Familienmensch. Der Traunreuter trainiert oft 400 Kilometer von seiner Heimat entfernt am Bundesstützpunkt in Heidelberg. Er hat drei Kinder, sein ältester Sohn weiß inzwischen, dass der Vater nach den Abschieden längere Zeit weg sein wird. Er weint. Und der Boxer leidet mit.

Vor zwei Wochen hat sich Michel trotzdem wieder verabschiedet. Anderthalb Monate wird er wegbleiben - allzu traurig war er dieses Mal jedoch nicht. Denn Michel fährt zu den Olympischen Spielen, als erster bayerischer Boxer seit 44 Jahren; seitdem der Nürnberger Günther Meier 1972 in München kämpfte. "Die Teilnahme ist ein Riesenerfolg, auch für meinen Verein, den TuS Traunreut", sagt Michel. "Denn der hat, glaube ich, noch nie einen Olympiateilnehmer gestellt." Für ihn wird es zumindest ein vorläufiges Happy End sein in seiner kleinen, und zuweilen etwas turbulenten Lebensgeschichte, die auf der Insel Sachalin tief im Osten der UdSSR begann, wo Michel 1988 geboren wurde; die in oberbayerischen Boxhallen, aber auch im Jugendknast weiterging und nun durch viel Fleiß und Cleverness nach Rio de Janeiro führt.

Ab 6. August wird Michel dort um die Medaillen kämpfen, auch wenn er sich eine Gold-, Silber- oder Bronzeplakette im Speziellen gar nicht als Ziel vornehmen will: "Ich mache keine großen Vorhersagen. Nur, dass ich mit meiner Leistung überzeugen werde." Der 27-Jährige kann aber nicht verhehlen, dass er als einer der stärksten Kämpfer im Halbschwergewicht (bis 81 Kilogramm) nach Rio fahren wird, aktuell liegt er auf Weltranglistenplatz drei. Er gilt als einer der schlagkräftigeren Jungs in seiner Klasse, sein Kampfname lautet nicht zu Unrecht "The Bavarian Sniper". Daher sagt er: "Ich kann jeden schlagen, so ist es nicht. Ich bin bekannt und gefürchtet. Daher sehe ich realistische Chancen, was zu reißen." Von seinen letzten zehn internationalen Wettkämpfen gewann er neun. Unter anderem holte er den Chemiepokal in Halle, den vor ihm spätere Boxgrößen wie Witali Klitschko, Henry Maske oder Sven Ottke gewannen.

Am Mittwoch machte er sich auf den Weg nach Brasilien. Erst trainiert er mit internationalen Sparringspartnern in der Hauptstadt Brasilia, nach Rio de Janeiro geht es erst kurz vor der Eröffnungsfeier: "Das finde ich toll von unserem Verband. Dass er uns eben nicht direkt ins Getümmel im Olympischen Dorf steckt, sondern wir uns in Brasilia anpassen." Vor wenigen Tagen erfüllte sich für ihn zudem ein großer Wunsch: Sein Vater Eduard wird ihn nach Brasilien begleiten. Er übt mit Serge seit Jahren als Heimtrainer in Traunreut, der Verein sammelte Spenden für die Reise. Zum Rest der Familie will er mit Skype-Telefonaten Kontakt halten.

Wie wichtig ihm die Familie ist, merkt man, wenn Michel erzählt, welche Kraft sie ihm gibt. Denn er war nicht sein ganzes Leben lang der locker plaudernde Boxer. Mit sechs Jahren zog er von der Insel Sachalin ins 8000 Kilometer entfernte Deutschland. Angekommen ist er erst später. Er hatte eine bewegte Jugend, brach die Schule ab und musste ins Jugendgefängnis. "Darauf bin ich überhaupt nicht stolz", sagt er. "Aber ich habe das nie verheimlicht, weil es zu meinem Leben gehört."

Kaum ein Sport vermag junge Einwanderer so gut zu integrieren

Viele Menschen haben ihm danach geholfen, allen voran seine Frau. "Sie ist meine stille Heldin", sagt er. "Sie und mein Vater haben an mich geglaubt, als ich gesagt habe, dass es so nicht weitergehen kann. Ohne sie wäre die Olympia-Teilnahme nie möglich gewesen." Und auch nicht ohne die Realschule, in der Michel die Mittlere Reife nachholen durfte und die Bundeswehr, die ihm danach als Sportsoldat den Leistungssport ermöglicht hat. Natürlich hat ihn auch der Sport an sich gerettet. Kaum ein Sport vermag junge Einwanderer in Deutschland so gut zu integrieren wie das Boxen. Michel hat Freunde gefunden, darunter auch den deutschen Meister im Bantamgewicht Edgar Walth, der die Olympia-Qualifikation knapp verpasste.

Serge Michel hat sich dagegen durchgeboxt - in der Qualifikation und in seinem Leben. Bis nach Rio de Janeiro. Er sagt: "Am Ende entscheidet das Leben, ob man ein Kämpfer wird oder nicht." Michel ist ja nicht blöd - im Gegenteil: Er hat als Teenager mal Mist gebaut, ist dann aber ein sehr reflektierter Mensch geworden. Und so reflektiert wie neben dem Ring zeigt er sich darin: Er schlägt nicht drauf los, sondern distanziert sich vom Gegner und kontert clever. Womit er auch seine Familie stolz gemacht hat: "Meine Frau hat vor Kurzem sogar gesagt, dass sie sowieso gewusst hat, dass ich es nach Rio schaffe."

Dort startet er jetzt "voller Vorfreude und hoch motiviert". Und so könnten die nächsten Tränen seines Sohnes Freudentränen sein: nach Michels erster Olympia-Medaille.

© SZ vom 28.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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