Borussia Mönchengladbach:Die mit den Superkräften

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Ball rein, Spiel gebogen: Raffael erzielt gegen Leverkusens Torwart Leno das 3:2 für Gladbach. (Foto: imago/Horstmüller)

3:2 nach 0:2: In Gladbach glauben sie jetzt ganz fest an eine Wunderheilung durch den neuen Trainer Dieter Hecking. Bei Bayer 04 Leverkusen klingt das Jammern hingegen vertraut.

Von Philipp Selldorf, Leverkusen

Lars Stindl ist kein kleiner, aber auch kein großer Mann. Er misst 1,80 Meter - die deutsche Durchschnittsgröße - und bringt 78 bis 80 Kilo auf die Waage. Jonathan Tah dagegen ist mit seinen 194 Zentimetern unbestritten ein großer Mann, "erst mal wurde es dunkel, als er hereingekommen ist", berichtete einst sein Trainer Roger Schmidt vom Eindruck der ersten Begegnung. Ein schwerer Mann ist Tah außerdem, etwa 94 Kilo beträgt sein Gewicht, das der Leverkusener Verteidiger nützlich einzusetzen weiß. Beim Kopfball zum 1:0 für Bayer am Samstagabend bekam das sein Gegenspieler Jannik Vestergaard zu spüren, auch wenn der Fernsehexperte Lothar Matthäus die Meinung vertrat, der Mönchengladbacher habe sich in der fraglichen Szene "amadörhaft" verhalten.

Die gelungenen und die misslungenen Zweikämpfe des Schwergewichts Jonathan Tah waren ein tragendes Thema während der Begegnung zwischen Bayer und Borussia - und ein Schlüssel für die Erklärung des staunenswerten Spielverlaufs. Tah sorgte dafür, dass Bayer nach einer halben Stunde endlich ins Spiel fand, aber er war auch an den Momenten beteiligt, die den Gladbachern zur Wende und schließlich zum 3:2-Sieg verhalfen. Tah nahm die unwillkommene Hauptrolle in seinem Team ein, er verkörperte Aufstieg und Fall von Bayer Leverkusen in 90 Minuten, und wenn der Trainer Schmidt auch keinen Namen nannte, als er "die inkonsequente Verteidigung" und "wichtige verlorene Zweikämpfe in der letzten Linie" für die Niederlage verantwortlich machte, so war doch klar, wen er damit vor allem gemeint hatte.

Andererseits wird Jonathan Tah dadurch entlastet, dass er seine Zweikämpfe gegen Männer verlor, die sich im Laufe des Spiels Superkräfte angeeignet hatten. Während sich also Stindl von der besseren Ausstattung seines Gegners nicht beeindrucken ließ, als er vor dem 1:2 mit dem Bayer-Riesen in den Ringkampf eintrat, schaffte es der hänflinghafte Raffael vor dem 2:3, seinen ungleich stattlicheren Kontrahenten mit einer Leichtigkeit aus dem Weg zu schieben, als ob dieser ein Schrank auf Rädern wäre. Weshalb auch der Kapitän Stindl und das stille Genie Raffael stellvertretend für ihr Team standen. An führender Stelle vertraten sie die alten Borussia-Werte, die während der Hinrunde auf rätselhafte Art verloren gegangen waren: Angriffsgeist, Mut, Entschlossenheit, den Willen, sich durch nichts und niemanden aufhalten zu lassen, selbst wenn er einen Kopf größer ist.

Leverkusens Euphorie nach dem Florida-Trainingslager entbehrt wohl der sachlichen Grundlage

Damit hatten nicht viele Zuschauer gerechnet, als die Teams beim Stand von 2:0 für Leverkusen aus der Kabine kamen. Am wenigsten offenbar die in Führung liegenden Hausherren. Sie hatten zwar eine halbe Stunde lang Mühe gehabt, den stürmischen Borussen standzuhalten, hatten aber nach den Eck- und Kopfballtoren von Tah und Chicharito (31. und 34. Minute) so eindeutig das Kommando übernommen, dass Borussia-Manager Max Eberl zur Halbzeit ein Debakel befürchtete. Als Rudi Völler später gefragt wurde, wie aus dem schönen Vorsprung ein Rückstand werden konnte, zuckte der Bayer-Sportchef mit den Schultern und meinte: "Wie das so ist im Fußball: Du führst 2:0 und meinst, du hast das Ding sicher drin ..." Die alte Weisheit taugt zur Erklärung, gibt aber Anlass zu prinzipiellen Bedenken: Die Euphorie, mit der Bayer aus dem angeblich so stimmungs- und wirkungsvollen Trainingslager in Florida zurückgekehrt war, entbehrt offenbar der sachlichen Grundlage.

Nach dem Seitenwechsel war nicht nur ein strafwürdiges Nachlassen bei den Leverkusenern zu erkennen, es herrschte auch wieder eine allgemeine Verunsicherung, die von den Borussen als Ermutigung aufgefasst wurde. Konsterniert merkte Völler an: "Wir hätten gern eine Aufholjagd gestartet, die ist jetzt leider unterbrochen." Statt vom Angriff auf die Champions-League-Ränge ist jetzt von "kleineren Schritten" Richtung Europa-League die Rede, während Trainer Schmidt wieder auf das jugendliche Alter und die Unreife seiner Mannschaft hinwies - bekannte Töne aus dem alten Jahr.

Auch bei den Siegern hatte das vorige Jahr zuletzt noch unschön in die Gegenwart gewirkt. Beim Test-Turnier vor dem Neustart hatten die Borussen eine Leistung geboten, die Eberl "unter aller Sau" fand, und das 0:0 in Darmstadt war ebenfalls nicht geeignet, Frohsinn zu verbreiten. Im ungewohnten Bewusstsein eines Auswärtssieges begann sich am Samstagabend aber sogleich der Glaube auszubreiten, dass mit der Ankunft des Trainers Dieter Hecking (und mit dem Fortgang von André Schubert) die Wende zum Guten gekommen sei. "Man merkt schon seine Erfahrung", sagte Christoph Kramer und lobte: "Er kann sehr gut mit Menschen umgehen."

Es kam dann auch noch die Frage nach Stindls Superkräften im Ringkampf mit Tah. "Ich hab' versucht, den Körper reinzustellen", sagte der Kapitän, "dann fällt mir der Ball vor die Füße, ich treff' ihn ganz ordentlich, und er geht hinten rein." Ein ganz normales Wunder also.

© SZ vom 30.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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