Blindenfußball:Lauschangriff der besonderen Art

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Torschuss der deutschen Blindenfußballer auf dem Lilli-Henoch-Sportplatz in Berlin - bis Sonntag wird der Europameister ermittelt.

(Foto: DBS-Akademie/imago)
  • Frühere Europameisterschaften im Blindenfußball fanden auf abgelegenen Plätzen statt. Nun ist die EM im Herzen der Hauptstadt.
  • In Deutschland ist die Geschichte des Blindenfußballs keine zehn Jahre alt. Brasilien, Argentinien und die Türkei sind schon weiter, mit etablierten Ligen und dutzenden Mannschaften.
  • Seit einiger Zeit diskutieren Vertreter des DFB und des Deutschen Behindertensportverbandes über eine zeitgemäße Organisation des Behindertenfußballs, jenseits von Wohltätigkeit.

Von Ronny Blaschke, Berlin

Der blinde Fußballer Mulgheta Russom könnte ein Buch über Schmerzen schreiben. Er prallte mit Gegenspielern zusammen, ihm brach die Nase, er verlor Zähne, verletzte sich an Oberschenkel, Knie und Wade. Doch wenn er den Ball eng am Fuß Richtung Tor dribbelt, blendet er diese Erfahrungen aus. Kraftvoll tritt er zum Sprint an und stoppt rechtzeitig vor der Bande wieder ab. Er konzentriert sich auf die Stimmen seiner Kollegen, es sind Lauschangriffe der besonderen Art.

Mulgheta Russom, 39, und das deutsche Nationalteam erleben die wohl wichtigsten Tage ihrer sportlichen Laufbahn. Am Anhalter Bahnhof in Berlin findet die EM im Blindenfußball statt. Unter den zehn Teams gehört der Gastgeber zur erweiterten Spitze. Die Deutschen haben die Chance, ins Halbfinale am Donnerstag einzuziehen, doch vor allem möchten sie ihren Sport bekannter machen. Ihr Eröffnungsspiel am vergangenen Freitag mit 2200 Zuschauern am Sportplatz, sahen auf diversen Internetkanälen 750 000 Menschen. Frühere Europameisterschaften fanden auf abgelegenen Plätzen statt. Nun ist die EM im Herzen der Hauptstadt.

Ihr sehender Torwart und zwei Betreuer dürfen Kommandos geben

Als junger Mann hätte sich Mulgheta Russom das nicht vorstellen können. Im Alter von 20 geriet er auf einer Nachtfahrt mit seinem Auto auf die Gegenbahn und schleuderte gegen einen Baum. Kiefer, Nase und Wangenknochen waren gebrochen. In stundenlangen Operationen wurde das Gesicht gerichtet. Später erkrankte er an einer Infektion, kurz darauf erblindete er.

Mulgheta Russom war niedergeschlagen, er haderte, aber schon bald widmete er sich wieder dem Sport. Er wollte beweisen, dass blinde Menschen Höchstleistungen bringen können. Er probierte es mit Speerwerfen, auch Wassersport, er machte Fallschirmsprünge, 2006 folgte er einer Einladung zum Fußball. Vor seinem Unfall hatte er in der Landesliga gespielt, als Rechtsaußen lief er die Linie auf und ab. Nun trainierte er seinen Orientierungssinn, probte seine Risikobereitschaft, festigte sein Balancegefühl. Er eroberte sich seinen Lieblingssport ein zweites Mal.

Mulgheta Russom, geboren in Eritrea, zu Hause in Stuttgart, ist heute einer der erfahreneren Spieler, Kollegen wie Jonathan Tönsing aus Hamburg sind nicht mal halb so alt wie er. Einige Kicker sind von Geburt an blind, andere haben durch eine Krankheit ihre Sehkraft verloren. Auf dem Feld, 40 Meter lang, 20 Meter breit, unterstützen sich die vier Feldspieler mit Zurufen. Ihr sehender Torwart und zwei Betreuer dürfen ebenfalls Kommandos geben. Wer den ballführenden Gegner bedrängen möchte, muss das spanische Wort "voy" sagen: "Ich komme!" Um verbliebene Sehfähigkeiten auszugleichen, tragen die Spieler Dunkelbrillen. Das Publikum verhält sich ruhig, sonst ist der Ball mit den eingenähten Rasseln nicht auszumachen. Dafür ist der Torjubel um so lauter.

Als inklusiver Vorreiter gilt der Zweitligist FC St. Pauli

In Deutschland ist die Geschichte des Blindenfußballs keine zehn Jahre alt. Brasilien, Argentinien und die Türkei sind da weiter, mit etablierten Ligen und dutzenden Mannschaften. Zum einen, weil dort Sponsoren und Fernsehsender die Attraktivität des Sports früh erkannt haben. Zum anderen, weil die medizinische Versorgung flächendeckend nicht so gut ist wie in der Europäischen Union. In Deutschland leben prozentual weit weniger blinde Menschen als zum Beispiel in Brasilien.

Mulgheta Russom betont im Interview mehrmals, dass seine Kollegen und er sich eine bessere Förderung wünschen. Der Deutsche Fußball-Bund unterstützt mit seiner Sepp-Herberger-Stiftung zwar die 2008 gegründete Blindenfußball-Bundesliga, nicht aber die EM. Die Spieler haben zwar keine Kosten, verdienen in ihrem trainingsintensiven Leistungssport aber auch nichts dazu. Vor dem gesellschaftspolitischen Hintergrund der Inklusion, der gleichberechtigten Teilhabe von behinderten und nichtbehinderten Menschen, könnte der beliebteste Sport ein deutliches Zeichen setzen, findet Russom. Von den EM-Teilnehmern ist allein das englische Team fest im nationalen Fußballverband verankert, also in der Football Association FA. Alle anderen liegen in der Obhut von Behinderten-Organisationen.

Folgt man der inklusiven Vision, so sollen irgendwann Sportler mit und ohne Behinderung unter demselben Dach aktiv sein und von denselben Strukturen profitieren, in der Trainingsmethodik, in der Rehabilitation oder im Antidopingkampf. Von den Traditionsklubs haben Borussia Dortmund, Schalke 04 oder der Chemnitzer FC ein Blindenfußballteam etabliert, als inklusiver Vorreiter gilt der FC St. Pauli. Seit einiger Zeit diskutierten Vertreter des DFB und des Deutschen Behindertensportverbandes über eine zeitgemäße Organisation des Behindertenfußballs, jenseits von Wohltätigkeit. Das Feld ist komplex, denn auch Kicker mit einer geistigen Behinderung, mit einer cerebralen Bewegungsstörung oder mit einer Amputation wünschen sich eine verlässliche Unterstützung.

Für Mulgheta Russom ist die EM eine festliche Zwischenstation. Bald wird er sich als Fitnesstrainer wieder um Nacken- und Schulterverspannungen kümmern. Bald wird er in Schulen und Jugendeinrichtungen wieder für den Blindenfußball werben. Damit das Publikum wächst. Und damit noch mehr blinde Jugendliche erfahren, dass auch sie sich durch Fußball selbst verwirklichen können. Er selbst hat das größte Ziel noch vor sich: die erste Teilnahme eines deutschen Teams bei den Paralympischen Spielen.

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