Biathlon-WM in Oberhof:Der lange Schatten von Plan 14.25

Stasi-Mitarbeiter als Verantwortliche und Opfer, die beschimpft werden: Das größte Sportereignis Thüringens kämpft mit der Vergangenheit.

Von Volker Kreisl

Ruhe gibt es in Oberhof im Übermaß, sogar in diesen Tagen. Man findet sie schnell, man muss sich nur von der Hauptstraße entfernen, die vom Ort hinüberführt, zum Biathlon-Zentrum. Es ist mühsam, die Beine versinken bis zu den Knien im Schnee, und manchmal bricht man bis zum Oberschenkel ein.

Biathlon-WM in Oberhof: Zurück in die Vergangenheit.

Zurück in die Vergangenheit.

(Foto: Foto: dpa)

Man arbeitet sich vorwärts, 50 Meter, 100 Meter, bis man ganz allein ist. Nichts regt sich hier, nichts ist zu hören, bis auf das Sausen in den Ohren. Der Schnee lastet auf den Fichten, und auch aus dem Anwesen mit den eingeschlagenen Fenstern, das zwischen den Ästen zu erkennen ist, dringt nichts herüber. Die Ruhe hat hier gewonnen.

Unten am Grenzadler, wo die Wettbewerbe ausgetragen werden, dröhnen die Motoren der Bagger, klopfen die Hämmer der Arbeiter, die das riesige Festzelt errichten. Jahrelang hatten die Oberhofer auf diese Biathlon-Weltmeisterschaft gehofft.

Nun, ehe der erste Schuss abgegeben wurde, wird sie schon von Rekorden begleitet, und es wirkt, als kämen aus diesem neuen, modernen Oberhof nur lauter gute Nachrichten: Es gibt viel mehr Kartenwünsche, als man befriedigen könnte. Man rechnet mit 250.000 WM-Besuchern und 50.000 Extra-Touristen. Und es gibt viele gute Aussichten für die deutschen Biathleten. Diese WM wird die größte Veranstaltung, die es im Biathlon bislang gegeben hat. Und es wird die meistbeachtete Sport-Veranstaltung seit dem Mauerfall auf dem Gebiet der ehemaligen DDR.

Mit großem Sport kann man eine ganze Kultur präsentieren, bei den Olympischen Winterspielen 1994 in Lillehammer (Norwegen) wurde ein Thüringen-Haus errichtet, und dabei gelangte auch die Thüringer Bratwurst zu Weltruhm. Doch Sport kann auch sehr hässliche Werbung machen, es gibt Doping-Skandale oder schlimme Unfälle. In Oberhof gibt es die Last der Vergangenheit.

Zu lange geschwiegen

Die liegt nun schon mehr als 14 Jahre zurück, und die meisten Oberhofer sagen, es müsse endlich "Ruhe" sein. Hunderte von Helfern engagieren sich jetzt, viele sind jung und haben mit der Zeit vor 1989 nichts zu tun. Doch die Oberhofer Vergangenheit ist unberechenbar, und über die Gründe, warum sie ausgerechnet vor der WM wieder über die Veranstalter und den berühmtesten Wintersportort der DDR hereinbricht, gibt es viele Mutmaßungen.

Man wolle großen Sport im Osten verhindern, sagen manche. Andere behaupten, es liege daran, dass sich kein Offizieller je so recht dafür interessiert habe, warum zum Beispiel Andreas Heß früher mal Biathlon-Juniorenweltmeister war und heute ein Sportinvalide ist. Ein anerkanntes DDR-Doping-Opfer. Oder ist der Grund möglicherweise darin zu suchen, dass überhaupt viel geschwiegen wird und Kritiker in diesen Tagen in der Öffentlichkeit als "Lügenschweine" und "Nestbeschmutzer" abgetan werden - dass es also in Oberhof nach der Wende niemals echte "Unruhe" gab.

Der Ärger begann ganz plötzlich, im Januar. Vor drei Wochen musste Karl-Heinz Wolf seinen Posten aufgeben. Der Sportdirektor vom WSV Oberhof sollte die Wettkämpfe der WM leiten. Dass Karl-Heinz Wolf 14 Jahre als IM "Ernst" für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet hatte, war den Veranstaltern bekannt, erst auf politischen Druck wurde klar, welche Außenwirkung diese Ämtervergabe hat.

Vergangenes Wochenende trat Rolf Christian als Präsidiumsmitglied im WM-Organisationskomitee (OK) zurück, früher IM "Peter Fischer". Weil zugleich bekannt wurde, dass weitere OK-Aufgaben von früheren Spitzeln wahrgenommen werden, entstand der Verdacht, dass der heute noch strahlende Oberhofer Sport durchsetzt ist von alten Funktionären.

Die Organisatoren redeten deren Bedeutung klein, doch für das Thema interessierten sich immer mehr Medien. Das Thüringer Bürgerkomitee zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gibt ein kleines Buch heraus, mit dem Titel "Die Instrumentalisierung des DDR-Wintersports am Beispiel Oberhof", zur Lesung am Montag in Suhl kamen 150 Besucher.

Oberhof hat tatsächlich etwas von einem großen Nest. Es liegt eingebettet zwischen Hügeln, die Cafés tragen Namen wie "Sanssouci" oder "Vergissmeinnicht". Es ist eine Idylle für Touristen, mit ein paar kleinen Wegen und einer Ringstraße. An der liegt auch das "Haus der Gastes", ein moderner Bau. Im ersten Stock werden die WM-Touristen informiert über "100 Jahre Wintersport in Oberhof", in der großen Halle im Parterre wurde die Ausstellung vor zwei Wochen feierlich eröffnet.

Anwesend waren viele alte Funktionäre, die beteiligt sind an dem Erfolg, es gab das übliche Gemurmel vorab, klirrende Sektgläser, und es gab jenen beschwingten Ton in den Festreden, den man hört, wenn eine große Autobahn eröffnet wird. Mehr als 300 Wintersportmedaillen sind aus aller Welt heimgebracht worden, doch was 40 Jahre lang wirklich zum Erfolg geführt hatte, wird nicht erwähnt - in keiner Ansprache und auch nicht in der Ausstellung. Man behandelt Sport, nicht Politik.

Überwachte Instrumente

Der Leistungssport kam in den Fünfzigerjahren. Walter Ulbricht, Staatsratsvorsitzender und SED-Generalsekretär, hatte sein Urlaubsdomizil in Oberhof, mit ihm viele Regierungsmitglieder. Hier reifte der Gedanke, eine Wintersport-Enklave zu schaffen, die zuverlässig Beweise produziert für die Überlegenheit der sozialistischen Körperkultur.

Bei der "Aktion Rose" wurden Teile der Bevölkerung umgesiedelt, damit Wohnungen für Sportplaner und Parteibonzen zur Verfügung standen. 1964 wurde die erste Sprungschanze gebaut, später die Bob- und Rodelbahn, dazu ein riesiges Loipennetz. Stück für Stück wurden die Sport-Anlagen ergänzt mit den Einrichtungen des totalitären Regimes.

Die Stasi bekam eine eigene Abteilung mit circa 100 Inoffiziellen Mitarbeitern, die Kinder- und Jugendsportschule (KJS), die staatliche Talentschmiede, wurde nach Oberhof verlegt. Den Sportverein übernahm die Armee. Über die Dauer von Laufbahnen entschied die Leitung des Armeesportklubs (ASK) Oberhof. Veränderungen im persönlichen Leben waren laut Vertrag anzuzeigen, "über alle internen Fragen" wurde "strengstes" Stillschweigen vereinbart, "auch nach dem Ausscheiden".

Aufwändige Mannschaftssportarten wurden nicht mehr unterstützt, stattdessen "medaillenintensive" Disziplinen - Langlauf, Skisprung, Bob, Biathlon. Längst griff der so genannte Staatsplan 14.25 - damit war Doping von oben verordnet, Trainer und Sportler waren überwachte Instrumente, wer sich widersetzte, wurde ausdelegiert.

Als der Langlauftrainer Henner Misersky Mitte der Achtzigerjahre den Beweis erbrachte, dass Spitzenleistungen auch ohne Anabolika, mit alternativen Trainingsmethoden möglich waren, wurde er fristlos entlassen. Er hatte sich einer "neuen Verbandskonzeption" im Langlauf widersetzt, die Hormondoping für Minderjährige ab 16 planmäßig vorsah.

Misersky war wegen seiner Haltung schon als Leichtathlet und Akademiker ausgebremst worden. Später war er Zeuge im Prozess gegen den Doping-Trainer Kurt Hinze. Misersky sagte, von einem gewissen Grad an habe es nur noch eine Wahl gegeben, entweder man opponierte, oder man machte mit.

Druck der Öffentlichkeit

Es wird dunkel in Oberhof, die Türme des Hotels Panorama, die aussehen wie Sprungschanzen, leuchten, und auch im Büro von Wolfgang Filbrich ist noch Licht. Filbrich ist Leiter des Olympiastützpunkts, er sitzt im Präsidium des Organisationskomitees und hat Ränder um die Augen, wegen der Arbeit der letzten Wochen.

Eine Grauzone gebe es, klagt Filbrich, und so viel Misstrauen, "ich weiß auch nicht, womit ich noch rechnen muss". Er müsse sich um vieles kümmern, sogar darum, dass der Bundespräsident gut sieht. Und nun kommt diese Aufregung dazu, die bei Filbrich und den anderen im OK auf Unverständnis stößt. Filbrich war Cheftrainer für Biathlon im ASK Oberhof, er sagt, er habe sich nichts vorzuwerfen. Für seine öffentlichen Angestellten könne er sagen, dass alle auf ihre DDR-Vergangenheit "im notwendigen Maße überprüft" worden seien.

Möglicherweise holt die Vergangenheit die großen Sportveranstaltungen in der ehemaligen DDR auch deshalb immer wieder ein, weil diese "Überprüfungen" in der Regel so ausgesehen haben wie jene von Manfred Thieß. Er hatte nach der Wende das Amt des Thüringer Landessportpräsidenten übernommen und war erst im Frühjahr 1994 gründlich gecheckt worden. Dann musste er gehen.

Es hatte sich herausgestellt, dass er als "Patriotische Kraft" der Stasi Misersky bespitzelt, dessen Karriere dadurch behindert und sogar dessen Freunde ausspioniert hatte, um Beweise für seine politische Unzuverlässigkeit zu sammeln. Wenn überhaupt Unrecht in Oberhof aufgedeckt wurde, sagte Misersky, dann durch den Druck der Öffentlichkeit.

Die Vergangenheit ist viel komplizierter, sie lässt sich nicht in ein paar Absätzen über Sprungschanzenbau und Zwangs-Doping erklären, auf diese Wahrheit verweisen auch immer wieder die Oberhofer Verantwortlichen von heute. Dafür gibt es gängige Metaphern. "Nicht alle in einen Topf werfen!", fordert Filbrich. "Nicht mit dem Rasenmäher über alles gehen", verlangte Thüringens Sportminister Klaus Zeh, CDU, zur Eröffnung der Oberhofer Wintersport-Ausstellung. Sie fordern, dass man alles ganz genau betrachten müsse.

"Vaterlandsverräter"

In Oberhof aber sind es nur die Opfer selber und wenige hartnäckige Journalisten, die genau hinschauen, denn sie lesen Akten. Die Stasi-Überwachungsakte von Andreas Heß umfasst 280 Seiten.

Als Heß damit fertig war, hatte er endlich verstanden, was am 31. Januar 1979 passiert war, warum er "über Nacht" wegen Westkontakten aus dem ASK Oberhof geflogen, von seinem Sportstudium ausgeschlossen und nach Sachsen versetzt worden war, schließlich ohne ärztliche Aufsicht "abtrainieren" musste und als "Vaterlandsverräter" galt.

Ein Jahr zuvor war er Biathlon-Juniorenweltmeister geworden, war im Olympiakader für 1980 gestanden. Nun war er 21, ein Niemand und "mit den Nerven fertig".

Heß war von acht Spitzeln observiert worden, auch von IM "Ernst", Karl-Heinz Wolf. Er hatte ihn wegen "Besitzes größerer Mengen Westgeldes" denunziert. Laut Heß handelte es sich um 20 D-Mark. Der Hinweis setzte einen riesigen Ermittlungsapparat in Gang. Wolf berichtete über Treffen des jungen Biathleten mit Frauen.

Der Rauswurf, hatte man Heß erklärt, sei vom Verband angeordnet worden. Tatsächlich hatte ihn die ASK-Leitung beantragt. Cheftrainer von Heß war Harald Böse, der heutige Co-Trainer der Biathlon-Männer-Mannschaft, bei der Stasi IM "Horst Sommer".

Die Stasi-Kommission des Deutschen Sportbundes bestätigte Böses "unrühmliche Rolle", kam aber zu dem Schluss, sein aktiver Beitrag sei "vergleichsweise gering" gewesen. Und Karl-Heinz Wolf wurde vom Ex-Präsidenten des WSV Oberhof bescheinigt, seine Tätigkeit sei "nicht so schwerwiegend" gewesen.

Wolf bleibt Berater der WM, auch andere Ehemalige bleiben präsent. An den Kaffeetischen bei der Ausstellungseröffnung saßen Kurt Hinze und Manfred Thieß, heute Leiter der Thüringer Sportakademie. Doping-Opfer wie Misersky, Heß oder Jürgen Grundler sind nicht zur WM eingeladen. Auch nicht Miserskys Tochter Antje. Sie war erste gesamtdeutsche Biathlon-Olympiasiegerin.

"Oberhof war früher 'ne Familie, und ist es heute wieder", sagt Andreas Heß. Über sich selber musste er aber in den Neunzigern feststellen: "Ich war nie in Oberhof." Seine Rehabilitation war zunächst eine erneute Erniedrigung, es gab keine Zeugnisse, keine Verträge, keine Beweise, Heß hatte zehn Jahre lang für den ASK trainiert und gewonnen, und war vollständig getilgt. Eine ehrliche Entschuldigung von Wolf oder Böse, erklärt Heß heute, habe es nie gegeben.

Starre Lage

Eine Entschuldigung, das sagt auch Sportminister Zeh, sei wichtig für die Aufarbeitung. Zeh spricht von "Sühne", doch neben Strafen ist es nach 14 Jahren vermutlich erst einmal wichtig, dass in der Grauzone überhaupt offen geredet wird, und dafür wird zunächst nach Kompetenzen gesucht.

Heinz Billino, DSV-Vizepräsident, hatte erklärt, der Fall Wolf sei Veranstaltersache, das gehe den Verband nichts an. Politiker Zeh sagt, die Politik dürfe sich nicht in die Personalien von Privatklubs einmischen. Bürgermeister Hartmut Göbel sagt: "Was die Sportverbände und -vereine machen, kann nicht Sache der Verwaltung sein."

Vielleicht gerät die starre Lage in Oberhof aber doch noch in Bewegung. Zur Lesung nach Suhl kamen am Montag beide Fronten, es wurde gestritten und gemahnt. Es wurde geschimpft, dass es nur um Rache gehe, und am Ende verstanden doch die meisten, dass die Opfer Gerechtigkeit wollen und niemand den großen Sport in Oberhof verhindern will.

Stapft man weiter im Wald am Grenzadler, muss man über einen Zaun steigen. Es geht eine Auffahrtsstraße hinauf, um eine Kurve, und dann steht man vor jenem großen verlassenen Anwesen mit den eingeschlagenen Scheiben. Schmutzfäden laufen an der Fassade herab, kein Geräusch ist zu hören. Absolute Winterstille. Im Volksmund heißt das Haus "Villa Walter", es ist das verfallene Urlaubsdomizil der Regierung. Die Oberhofer Erfolgsgeschichte nahm hier ihren Anfang, gleich neben dem neuen Stadion.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: