Bergsteigen:"Dann kam die Lawine"

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Gerlinde Kaltenbrunner erzählt, wie sie im Himalaja einen Lawinenabgang überlebt hat. Zwei ihrer Begleiter starben, dennoch plant sie schon die nächste Expedition.

Interview: Marcel Burkhardt

Beim Versuch, den Dhaulagiri (8167 Meter), ihren zehnten Achttausender, zu besteigen, kam Gerlinde Kaltenbrunner in eine Lawine. Die 36-jährige Alpinistin aus Spital am Pyhrn konnte sich selbst befreien, zwei ihrer drei spanischen Begleiter starben in Schnee und Eis. Zu Beginn des Gesprächs klingt Gerlinde Kaltenbrunner niedergeschlagen, erschöpft, auch traurig. Sie ist gerade erst aus dem Himalaja zurückgekehrt nach Bühlertal, in ihre Wahlheimat im Schwarzwald. Die Bergsteigerin spricht leise, seufzt beim Gedanken an die Geschehnisse immer wieder, ringt mit den Worten, die sich dann aber doch Bahn brechen. An ihrer leidenschaftlichen Liebe für die Berge lässt Gerlinde Kaltenbrunner keinen Zweifel aufkommen: sie bereitet schon ihre nächste Expedition vor - noch im Juni bricht sie mit ihrem Ehemann Ralf Dujmovits (45) zum K2 auf, dem zweithöchsten Berg der Erde.

Sie spricht leise, sie seufzt, sie ringt um Worte: Die Bergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner hat eine Lawine überlebt. (Foto: Foto: oh)

sueddeutsche.de: Wie geht es Ihnen jetzt, zwei Wochen nach dem Unglück?

Gerlinde Kaltenbrunner: Ich spüre, dass ich ein riesiges Glück im Unglück gehabt habe. Bisher konnte ich das, was passiert ist, kaum verarbeiten. Es wühlt mich weiter auf, arbeitet in mir. Ralf und ich reden viel darüber. Und ich merke: langsam löst sich was in mir. Ich bekomme ein bisschen Abstand zu dem Unglück. Die ersten Tage war ich ganz allein mit meinen Gedanken über dieses unberechenbare Restrisiko am Berg.

sueddeutsche.de: Welche Gedanken begleiten Sie heute?

Gerlinde Kaltenbrunner: Ich denke daran, wie nah absolute Freude und der Tod beieinander liegen. Ich hatte auf einen schönen Tag am Berg gehofft - und dann kam diese Lawine, völlig überraschend, wie aus dem Nichts. Die beiden spanischen Bergsteiger, die dabei ums Leben gekommen sind, Santiago Sagaste und Ricardo Valencia, habe ich sehr gut gekannt. Ich hab nichts mehr für sie tun können - das ist das Schlimmste, einfach furchtbar.

sueddeutsche.de: Wie haben Sie das Unglück erlebt?

Gerlinde Kaltenbrunner: Wir waren zu viert auf dem Weg zum Gipfel. Unser Lager auf 6650 Meter Höhe galt bisher als absolut sicher vor Lawinen, weil der Platz direkt am Grat liegt. Dort stellen alle ihr Lager II hin, wenn sie über den Nordost-Grat gehen. Die Nacht vor dem Unglück war eiskalt und sternenklar. Am Morgen kam dann ein Sturm auf - so stark, dass wir in den Zelten bleiben mussten. Ich hatte gerade einen Becher Tee getrunken und mich auf meine Matte gelegt, als es mich mit einem Mal im Zelt herumgewirbelt hat. Ich wusste nicht, wo unten ist und wo oben. Rundherum hat sich alles zusammen geschoben. Ich dachte nur: das war's, jetzt ist alles vorbei.

sueddeutsche.de: Glücklicherweise ein Irrtum.

"Als es vorbei war, konnte ich kaum noch schnaufen, meine Beine klemmten im Schnee fest." (Foto: Foto: oh)

Gerlinde Kaltenbrunner: Ja, Gott sei Dank. Vielleicht 20 Meter von unserem Lager entfernt war ein 800 Meter tiefer Abgrund. Aber die Lawine hat mein Zelt nur ein paar Meter mitgerissen. Als es vorbei war, konnte ich kaum noch schnaufen, meine Beine klemmten im Schnee fest. Zum Glück blieb ein Hohlraum vor meinem Gesicht und dem Oberkörper.

sueddeutsche.de: Wie haben Sie sich befreit?

Gerlinde Kaltenbrunner: Ich konnte mein Messer am Hüftgurt fassen. Damit habe ich das Zelt ein klein wenig aufgeschlitzt. Nasser, schwerer Schnee fiel mir ins Gesicht. Ich habe vorsichtig gegraben. Über mir wurde es heller und heller und ich sah ein kleines Loch. Dann war der unbedingte Wille da: Ich will hier raus! Ich habe mich mit bloßen Händen frei gegraben, irgendwie rausgewurschtelt. Es hat bestimmt eine dreiviertel Stunde gedauert - mir kam es wie eine Ewigkeit vor. Beim Graben habe ich mich die ganze Zeit gefragt: Kommt noch was? Noch eine Lawine? Davor hatte ich Panik: es doch nicht zu schaffen. Das war ein Gefühl wie auf Messers Schneide.

sueddeutsche.de: Wie war das Gefühl, als Sie endlich draußen waren?

Gerlinde Kaltenbrunner: Ich hab mich umgeschaut nach den beiden Zelten der Spanier, hab nichts davon gesehen. Ich stand in meinem Daunenanzug und in Socken in der Eiseskälte und hab dann meine Schaufel im Eis gesehen. Mit der hab ich mein Zelt freigeschaufelt, meine Handschuhe, Sonnenbrille und meine Schuhe ausgegraben. Ich war so froh: ohne Brille wird man sofort schneeblind, ohne Schuhe frieren die Zehen ab. Ich bin dann sofort zu der Stelle, an der ich die Spanier vermutet habe und hab' eine Stunde lang geschaufelt. Dabei wie wild geschrieen. Ihre Namen. Wie wahnsinnig. Bei den Schneemassen gab es fast keine Hoffnung. Ich hab gespürt, dass sich nicht mehr leben. Aber ich hab' trotzdem geschaufelt - wie verrückt. Irgendwann wusste ich: sie sind tot, durch die Massen von Schnee und Eis wie einbetoniert.

sueddeutsche.de: Der vierte Bergsteiger, Javi Serrano, hat überlebt.

Gerlinde Kaltenbrunner: Ja. Ich habe die ganze Zeit nach ihm gerufen. Dabei habe ich ihn aufgeweckt. Er hat geglaubt, dass er einen Albtraum gehabt hätte. Der kam aus seinem eingeschneiten Zelt raus und hat gerufen: Gerlinde, Gerlinde! Ich habe laut geschrieen - wie wahnsinnig vor Glück. Die Lawine ist an seinem Zelt vorbeigerauscht. Und der Javi hat nichts davon mitbekommen.

sueddeutsche.de: Was haben Sie dann gemacht?

Gerlinde Kaltenbrunner: Wir sind gemeinsam abgestiegen. Die beiden anderen - Santiago und Ricardo - mussten wir oben lassen. Wir hätten sie nicht tragen können. Das hätten wir nicht geschafft. Ich habe heute E-Mails von den Familien bekommen. Sie wollen die Körper heim holen nach Spanien und im Herbst einen Bergungstrupp schicken. Ich denke fast die ganze Zeit an die Beiden - und hoffe, sie haben nicht gelitten.

sueddeutsche.de: Wie hat Ihr Ehemann von dem Unglück erfahren?

Gerlinde Kaltenbrunner: Ich habe ihn vom Basislager aus mit dem Satellitentelefon angerufen. Er war mit elf Leuten auf dem Weg zum Gipfel des Manaslu. Er hat gewusst, dass es mir nicht gut geht und hätte am liebsten alles stehen und liegen lassen, um zu mir zu kommen. Ich hab ihm gesagt: Ich drück dir die Daumen für den Aufstieg. Dabei hatte ich mir innerlich nichts sehnlicher gewünscht, als dass er bei mir gewesen wäre. Ich bin dann einige Tage ziellos und allein durch Kathmandu gelaufen. Ich war völlig leer. Dann bin ich wieder raus aus der Stadt. Fünf Tage ganz allein zum Trekking durch eine wildschöne Natur. Ich bin jeden Tag sieben Stunde gelaufen, weit und breit kein Mensch. Das hat mir gut getan.

sueddeutsche.de: Wie häufig hören Sie nun den Satz 'Gerlinde, hör auf mit dem Bergsteigen'?

Gerlinde Kaltenbrunner: In diesen Tagen sehr oft. Sehr viele Menschen zittern mit. Ich habe auch sehr viel kritische Post bekommen in den vergangenen Tagen. Hunderte Mails. Aber ich kann nicht aufhören. Einfach faul auf dem Sofa liegen? Das wäre das Ende. Ich muss nach vorn schauen, weitermachen.

sueddeutsche.de: Verstehen Sie nicht die Sorgen Ihrer Familie und Ihrer Freunde?

Gerlinde Kaltenbrunner: Doch, natürlich. Nächste Woche besuche ich meine Eltern und meine Geschwister in Österreich. Ich weiß, dass sie sich wahnsinnige Sorgen machen. Und ich weiß auch, es wird wieder etwas passieren am Berg. Ich hoffe aber trotzdem, dass sie mich irgendwie verstehen können. Die großen Berge sind mein Leben. Das Bergsteigen ist meine große Leidenschaft. Das Leben am Berg ist sehr intensiv. Ich bin dort oben manchmal so glücklich, dass ich nicht weiß, wohin mit der Lebensfreude. Darauf möchte ich nicht verzichten.

sueddeutsche.de: Sie halten also an Ihrer K2-Expedition fest?

Gerlinde Kaltenbrunner: Ja. Wir starten am 13. Juni und machen uns jetzt mit Lauftraining und Radtouren fit. Ich freue mich schon auf Pakistan. Der K2 ist seit langem ein Traum von mir. Ich gehe höchst vorsichtig in den Berg. Ich habe ja noch weitere Ziele. Schon als ich das Basislager am Dhaulagiri verlassen habe, wusste ich: Ich komme wieder!

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