Belgiens Sieg gegen Russland:Auf Bettvorlegerniveau ins Achtelfinale

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Der Joker sticht: Divock Origi (zweiter von links) bejubelt sein spätes Tor. (Foto: AFP)

Der Siegtreffer fällt in der 88. Minute: Belgien überzeugt auch gegen Russland nicht, qualifiziert sich aber mit einem 1:0 fürs Achtelfinale. Wieder dreht Trainer Marc Wilmots mit seinen Einwechslungen das Spiel zu seinen Gunsten.

Von Claudio Catuogno, Rio de Janeiro

Wenn der Favorit nicht so spielt wie ein Favorit, ist das meistens nicht so gut für die Stimmung. Was aber ist, wenn der Geheimfavorit ziemlich exakt so spielt wie ein Geheimfavorit? Dann ist das auch wieder nicht recht. Ein Geheimfavorit muss natürlich mindestens so spielen wie ein Favorit, sonst wird er in der Liste der Titel-Anwärter schnell nach unten durchgereicht.

Die Geschichte ist voll solcher Beispiele: vom WM-Tiger zum Vorrunden-Bettvorleger in 270 Minuten. Weil dem belgischen Trainer Marc Wilmots, den sie früher "Kampfschwein" nannten und der sich daher auskennt in der Welt der Tiere, das nicht gefallen würde, war er nach dem knappen 2:1 seiner Elf gegen Algerien bemerkenswert schlecht gelaunt.

"Ihr rennt hier herum und schießt wie die Idioten!", hatte Wilmots seinem Team beim Training zugerufen; ihn störte, dass sich die Spieler vor Schussübungen allenfalls im Geheimen aufgewärmt hatten. "Nachher heult ihr, dass ihr verletzt seid. Aber dann ist es zu spät." Das Wort Idioten ist im Vergleich zur französischen Originalfassung noch wohlwollend übersetzt.

Die Aufstellung liest sich wie eine edle Europa-Auswahl

Ob sich Wilmots' Laune nach diesem Sonntagmittag in Rio de Janeiro dauerhaft verbessern wird? Gute Frage. Einerseits stehen die Belgier nach einem 1:0 (0:0) gegen Russland im Achtelfinale. Andererseits fand die gesamte Partie weitgehend auf Bettvorleger-Niveau statt.

Was Wilmots so umschrieb: "Es war sicher nicht der beste Fußball der Welt." Und Fabio Capello, der Trainer der Russen, so: "Es war ein exzellentes Spiel." Kein Wunder, dass der hoch bezahlte Italiener in Russland nicht den besten Ruf hat.

Dem Geheimfavoriten dabei zuzusehen, ob er mit seiner Rolle zurechtkommt, ist immer auch eine Studie über den Umgang mit Druck. Im Spiel der Belgier gegen Algerien war das zu spüren gewesen. Man merkt ja, ob eine Elf an ihrem Limit spielt und es trotzdem nicht zu mehr reicht. Oder ob ihn ihr etwas schlummert, ein Tiger- oder Kampfschwein-Kern, der aber nicht recht zum Vorschein kommt, weil das sperrige Wort Geheimfavorit so krumm und belastend mitten in den Köpfen sitzt.

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Man muss sich ja einfach mal ansehen, in den Farben welcher Vereine die Wilmots-Elf im Liga-Alltag unterwegs ist. Auf dem Aufstellungsbogen standen diesmal in der Kategorie "Club": zweimal Atlético Madrid, je einmal FC Arsenal, Manchester City, Manchester United, FC Everton, FC Chelsea, Zenit St. Petersburg, SSC Neapel, Bayern München und VfL Wolfsburg. Wie eine edle Europa-Auswahl traten die Belgier aber erst in den letzten zehn Minuten auf.

"Da hatten die Russen Krämpfe und wir sind noch gerannt", sagte der Wolfsburger Kevin De Bruyne. In der 88. Minute traf dann Divock Origi zum 1:0. Marc Wilmots hatte gleich drei Änderungen vorgenommen im Vergleich zum Algerien-Spiel, möglicherweise nach dem Grundsatz "Belohnen und Bestrafen". Verteidiger Jan Vertonghen, der einen Elfmeter verschuldet hatte, musste Thomas Vermaelen weichen (nach 35 Minuten wurde verletzungsbedingt wieder zurückgetauscht). Außerdem dankte Wilmots den beiden Algerien-Jokern Marouane Fellaini und Dries Mertens ihren Rettungseinsatz nun mit Startelfeinsätzen. Moussa Dembele und Nacer Chadli mussten auf die Bank.

Fellainis Naturwollen-Frisur rechtfertigt jeden Startelf-Einsatz

Es ist übrigens ein verbreiteter Irrtum zu glauben, dass Spieler, die nach ihren Einwechslungen späte Tore erzielen, beim nächsten Mal unbedingt von Anfang an spielen müssen, wodurch man sie dann nicht mehr einwechseln kann, wenn wieder späte Tore nötig sind. Doch zumindest Fellaini hat eine so großartige Naturwollen-Frisur, dass man ihm ohnehin in jeder Elf einen Stammplatz geben sollte. Und Mertens (SSC Neapel) war gegen die Russen tatsächlich lange der in sportlicher Hinsicht auffälligste Belgier.

Die erste gute Gelegenheit hatten zwar noch die Russen, als Viktor Fajsulin einen Schuss von der Strafraumgrenze auf den Weg schickte - Thibaut Courtois parierte (12.). Dann allerdings begann die Dries-Mertens-Show. Immer wieder dribbelte sich der Flügelspieler auf der rechten Seite durch, mal schoss er knapp vorbei (20.), mal knapp drüber (22.). In der 36. Minute zog Mertens wieder energisch in den Strafraum und schloss aus spitzem Winkel ab; diesmal war Torwart Igor Akinfejew auf dem Posten.

Doch je länger die Dries- Mertens-Show ging, desto dringlicher stellte sich die Frage: Was machen eigentlich die anderen Künstler? De Bruyne, der gegen Algerien beide Treffer vorbereitet hatte, mit seiner eleganten Robustheit? Ihm gelang wenig. Oder Eden Hazard (Chelsea), der das Spiel über den linken Flügel hätte beschleunigen sollen? Ihm gelang lange noch weniger.

Er war es dann aber, der Origis späten Siegtreffer vorbereitete. Die besseren Gelegenheiten hatten lange die Russen gehabt, vor allem kurz vor der Pause. Zunächst konnte jedoch Romelu Lukaku dem Stürmer Alexander Kokorin im letzten Moment den Ball abnehmen (43). Dann bekam Kokorin von Denis Gluschakow eine passgenaue Flanke - köpfelte aber drüber.

Die Russen, die bei der Heim-WM in vier Jahren ein Geheimfavorit sein wollen, waren lange das bessere Team, wenn auch auf überschaubarem Niveau. Sie hatten aber das Pech, dass der deutsche Schiedsrichter Felix Brych ihnen einen ziemlich klaren Elfmeter verweigerte: In der 27. Minute hatte Toby Alderweireld versucht, Kanunnikow am Strafraumeck den Ball wegzuspitzeln, traf aber den linken Fuß des Russen. Kein Pfiff, erstaunlicherweise.

Dass Brych von der Fifa für dieses Spiel eingeteilt war, ist aber noch erstaunlicher - immerhin ging es um mögliche Achtelfinalgegner der deutschen Elf. Doch weil Fabio Capello nie über Referees klagt, wurde das Elfmeter-Thema im Maracanã bald zu den Akten gelegt. Dafür war nun ziemlich angesagt: das Joker- Thema. Tatsächlich hatte Marc Wilmots ja schon wieder zwei formidable Einwechselspieler gefunden: Erst setzte Kevin Mirallas einen Freistoß an den Pfosten (84.). Und Torschütze Origi war zuvor für Lukaku gekommen.

© SZ vom 23.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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