Belgien bei der WM:So viele Talente wie Pommesbuden

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Marc Wilmots (re.) albert mit Kevin De Bruyne: Gut gelaunt beim WM-Start

(Foto: AFP)

So teuer wie junge Belgier sind derzeit kaum andere Spieler auf dem Transfermarkt. Dass die Nationalmannschaft daher zu den WM-Favoriten zählt, ist ein schlecht gehütetes Geheimnis. Doch es gibt auch Unwägbarkeiten im Team.

Von Boris Herrmann, Manaus

Als Kevin De Bruyne seine ersten WM-Erfahrungen sammelte, war er zehn Jahre alt. Damals, bei der Endrunde 2002 in Fernost, traf Belgien im Achtelfinale auf Brasilien. De Bruyne saß vor dem Fernseher. "Ich war ein Kind, ich erinnere mich an nicht mehr viel, außer an das belgische Tor", sagt er heute. Da sieht man mal, dass aus dem kleinen Kevin nicht nur ein bemerkenswerter Fußballer, sondern auch ein bemerkenswerter Fußball-Historiker geworden ist. Er kennt sogar mehr belgische WM-Tore als die WM-Statistik. Dort steht: Belgien - Brasilien 0:2.

Die Statistik mag stimmen. Das heißt aber noch lange nicht, dass der bald 23-jährige De Bruyne falsch liegt. Tatsächlich hat Marc Wilmots damals beim Stand von 0:0 ein blitzsauberes Tor erzielt, das der Schiedsrichter allerdings aus unerfindlichen Gründen nicht anerkannte. Vielleicht wäre die Fußball-Historie anders verlaufen, wenn dieser Treffer gezählt hätte. Vielleicht hätte Wilmots den späteren Weltmeister Brasilien verhindert. Und vielleicht wäre das Jahr 2002 als einer der Höhepunkte der belgischen Fußballkunst in Erinnerung geblieben - und nicht als der Beginn einer langen Krise. Ein einziger Pfiff kann manchmal den Lauf der Geschichte verändern. Die Belgier flogen jedenfalls bedröppelt nach Hause. Und dann waren sie erst einmal eine Weile weg.

Seit zwölf Jahren hat Kevin De Bruyne kein belgisches WM-Spiel mehr im Fernsehen sehen können. Und in diesem Jahr wird daraus auch nichts werden. Sein Land hat sich zwar endlich wieder für eine Endrunde qualifiziert. Aber diesmal muss De Bruyne selber ran. Und Marc Wilmots, der verhinderte Held aus seinen Kindheitserinnerungen, ist jetzt sein Nationaltrainer. "Seit er da ist, spielen wir gut", so würde De Bruyne die erstaunliche jüngere Geschichte der belgischen Nationalelf zusammenfassen. Ein bisschen Heldenverehrung ist immer noch dabei.

Jede Menge Fußballkünstler

Nichts gegen die Verdienste von Wilmots, der einst als Stürmer beim FC Schalke 04 unter dem Namen "Willi, das Kampfschwein" zu Ehren kam. Und der jetzt als Nationalcoach offenbar vieles richtig macht. Zahlreiche externe Beobachter sind trotzdem der Meinung, dass Belgien erst wieder gut spielt, seit die Generation De Bruyne nicht mehr vor dem Fernseher sitzt, sondern auf dem Platz steht. Seit es in dem flächenmäßig kleinsten Land dieser WM so viele junge Fußballkünstler wie Pommesbuden gibt. Spieler wie die Premier-League-Profis Eden Hazard, 23, Romelu Lukaku, 21, und Adnan Januzaj, 19. Oder eben Wolfsburgs De Bruyne.

Das am schlechtesten gehütete Geheimnis dieser Tage besagt, dass diese Belgier in Brasilien ein Geheimfavorit sind. Das ist eine Information, die ungefähr so geheim ist wie die Handygespräche der Bundeskanzlerin. Der bayerische Belgier und ehemalige Torhüter Jean-Marie Pfaff hatte bereits zur WM-Auslosung im Dezember vom "heißesten Versprechen im europäischen Fußball" getönt. Schon damals machte man sich damit keines Geheimnisverrates schuldig.

Die belgischen Jungspunde waren ohne Niederlage durch die WM-Qualifikation gerauscht. Inzwischen gehört es an jedem Fußballstammtisch zum guten Ton, dass man sagt, "Ich würde diese Belgier nicht unterschätzen!", wenn einer nach dem kommenden Weltmeister fragt. Zuletzt hat es sogar der Filmemacher Wim Wenders mit dem Satz "Ich halte Belgien für einen Geheimtipp" in die Nachrichten geschafft. Bei den Buchmachern stand dieser Geheimtipp zum Turnierstart auf Platz fünf im Favoriten-Ranking - noch vor Italien, England, Frankreich und den Niederlanden. Wahrscheinlich muss man eher von einem "Hype-Favoriten" als von einem Geheimfavoriten sprechen.

De Bruyne hält sein Team weder für besonders geheim noch für besonders favorisiert, sondern für eine vielversprechende junge Gruppe, die bei der WM versuchen will, das Team aus der Qualifikation zu sein. "Alle meinen, wir seien die goldene Generation", sagt er mit einem Unterton, in dem auch schon die Ahnung einer großen Enttäuschung mitschwingt. Ein Mann, der mehr Tore kennt als die Statistik, der weiß natürlich: Es sind in der WM-Geschichte schon ganz andere Geheimfavoriten nach drei Spielen abgereist.

Millionen für die goldene Generation

Der Hype ist aber nicht nur eine Bürde, er war auch schon eine kleine Hilfe. Weil diese Mannschaft im Fifa-Ranking ähnlich hoch eingeschätzt wird wie in den Wettbüros, war sie bei der Auslosung als einer von acht Gruppenköpfen gesetzt. Mit dem Ergebnis, dass ihr zumindest in der Vorrunde weitere Favoriten und Geheimfavoriten erspart bleiben. Zum Auftakt geht es am Dienstag in Belo Horizonte gegen Algerien. Danach warten noch Russland und Südkorea. Das scheint machbar zu sein, zumal sich diese Belgier ihren Ruf von der goldenen Generation redlich erarbeitet haben.

Den größten Anteil hat daran der Flügelspieler Hazard, der nicht nur zu den Leistungsträgern beim FC Chelsea gehört, sondern längst auch zu den begabtesten Spielern weltweit gerechnet wird. Auch jenseits von Eden besetzen die meisten belgischen Nationalspieler zentrale Rollen in europäischen Topklubs. Das beginnt mit Torhüter Thibaut Courtois, der mit Atlético Madrid spanischer Meister wurde. Das setzt sich fort über die Abwehrspieler Vincent Kompany und Thomas Vermaelen, die bei Manchester City beziehungsweise beim FC Arsenal die Kapitänsbinde tragen bis hin zu Marouane Fellaini (ManUnited), Axel Witsel (Zenit), Romelu Lukaku (Everton) - und es endet auch bei De Bruyne nicht, dessen VfL aus Wolfsburg man mit etwas Wohlwollen langsam wieder zu besseren Adressen Europas zählen darf.

Bloß der Innenverteidiger Daniel Van Buyten, 36, passt nicht ganz ins Bild. Erstens sitzt der beim FC Bayern oft auf der Bank. Und zweitens hat er im Gegensatz zum Rest des belgischen Teams schon einmal an einer WM teilgenommen, damals mit Wilmots.

Geld für die Akademien

Darin liegen auch die Unwägbarkeiten der belgischen Brasilienreise. Falls die sogenannten weichen Turnier-Faktoren im Fußball tatsächlich eine Rolle spielen sollten, dann wäre dieses Team nur eines unter vielen. Der gute Ruf, der den meisten Akteuren vorauseilt, hat ja weniger mit Erfahrungen und Meriten zu tun als mit Talenten, Zukunftsversprechen und Marktwerten.

Es gibt derzeit kaum teurere Spieler auf dem internationalen Transfermarkt als junge Belgier. Für Hazard legte Chelsea 40 Millionen Euro hin, genauso viel wie Zenit St. Petersburg für Witsel. ManUnited zahlte 35 Millionen für Fellaini, Tottenham 20 für Moussa Dembélé. "Da hat so eine Art Goldrausch eingesetzt. Jetzt sucht fast jeder in Belgien nach dem einen Supertalent. Und wahrscheinlich wird deshalb auch relativ viel Geld bezahlt", das sagt einer, der es wissen muss - Kevin De Bruyne, in dessen junger Karriere sich auch schon über 30 Millionen Euro an Transfersummen angesammelt haben (von Genk zu Chelsea und von Chelsea nach Wolfsburg).

Aus der erstaunlichen Jugendakademie des KRC Genk stammen übrigens auch Courtois sowie der derzeit verletzte Stürmer Christian Benteke. Der Klub ist mit diesen drei Transfers reich geworden - und hat von dem Geld ein noch besseres Nachwuchszentrum gebaut. "So funktioniert das Geschäft in Belgien", sagt De Bruyne. Und wenn das weiterhin so funktioniert, dann hat der belgische Goldrausch womöglich erst begonnen.

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