Bayer Leverkusen:Leon, der Profi

Hannover 96 -  Bayer Leverkusen

Eine der größten Attraktionen der Liga: Leverkusens Leon Bailey.

(Foto: dpa)
  • Leon Bailey hat es aus Jamaika in den europäischen Fußball geschafft. Der Weg dorthin verläuft abseits der Nachwuchsleistungszentren von Topclubs.
  • Der Vertrag des 20-jährigen mit Leverkusen läuft noch bis 2022, eine Ausstiegsklausel gibt es nicht.
  • Internationale Vereine beobachten den Jamaikaner bereits, der als einer der talentiertesten Spieler der Bundesliga gilt.

Von Philipp Selldorf, Leverkusen

Mitte der Woche stand Heiko Herrlich zwar nicht allein auf dem Trainingsplatz, aber mancher Zaungast war trotzdem so angespannt, als befände sich Bayer Leverkusens Trainer in einer prekären Lage - man vermisste den vermeintlich wichtigsten Mann an seiner Seite: Nachdem Leon Bailey, 20, tags zuvor Muskelbeschwerden gemeldet hatte, war er von Herrlich vorsichtshalber zum Einzeltraining in die Halle geschickt worden. Bailey versäumte dadurch eine Schicht, die den Zuschauer neidisch werden ließ: Das Werk der Profis bestand vorwiegend darin, den Ball volley übers halbe Feld zu jonglieren, um ihn dann aufs Tor zu knallen. Anschließend übten sie den Dreiklang aus Doppelpass und Torschuss. Es wurde mehr gescherzt und gelacht als freitagabends am Stammtisch, und um zwölf Uhr mittags rief Herrlich den Feierabend aus.

Fußball als Beruf kann das reine Glück auf Erden sein, aber fast jeder Spieler weiß auch Geschichten aus dunklen Zeiten zu erzählen. Leon Baileys mühsamer Weg ins große Geschäft ist voll von solchen Geschichten. Zurzeit ist der rasend schnelle Angreifer die größte Attraktion unter den jungen Bundesligaspielern, jeder will jetzt mit ihm reden; Interviewanfragen aus aller Welt, die New York Times inbegriffen, beschäftigen die Presseabteilung.

Sein Stiefvater und Berater sagt: "Leon ist nicht wie Ronaldo und Messi - er ist einzigartig."

Es ist so viel geworden, dass Bayer und Baileys Manager entschieden haben, einstweilen vor allem die Bilder sprechen zu lassen, die er selbst versendet. Darauf finden sich die Merkmale eines typischen Jung-Profis im 21. Jahrhundert: der verzierte rote Sportwagen und das Zuhause in Düsseldorf mit gepflegtem Parkettboden, blütenweißer Ledergarnitur im Wohnzimmer und einer Devotionalien-Galerie, die ausschließlich von Leon Bailey handelt.

Es ist das Leben, das er immer führen wollte, aber es ist ganz sicher nicht das Leben, das ihm in die Wiege gelegt wurde. Das begann schon damit, dass er auf der Insel Jamaika zwar unter karibischer Sonne aufgewachsen ist, aber in einer Gegend in der Hauptstadt Kingston groß wurde, die die US-Botschaft zu einer Art No-go-Area erklärt hat. Als er den Aufbruch nach Europa schaffte, um dort im Profifußball unterzukommen, war er immer noch weit weg vom großen Ziel. Bevor daraus der Aufbruch ins Glück wurde, musste er eine jahrelange Odyssee bewältigen.

An der Seite zweier Fußballkameraden aus Kingston und seines Stiefvaters Craig Butler (der auch sein Manager und Berater ist) war der 13-jährige Leon mit einem Touristen-Visum eingereist, und bis ihn vor 13 Monaten Bayer 04 Leverkusen engagierte, hatte er zwar bei Dutzenden von Klubs vorgespielt und dabei den halben Kontinent von Skandinavien bis zur Slowakei befahren bzw. bewohnt - aber eine planvolle Ausbildung blieb ihm auf der ständigen Durchreise vorenthalten. Während deutsche Juniorenspieler heutzutage fast durchweg an den doppelt und dreifach zertifizierten Nachwuchsleistungszentren gelernt haben, hat Bailey seine Lehre im Rahmen einer Tingeltour bestritten: USK Anif (heute FC Liefering) in Österreich, KRC Genk in Belgien, AS Trencin in der Slowakei - das sind die Stationen, die in seiner Biografie vermerkt sind. Er steuerte jedoch noch viele weitere Ziele an, um im Fußball anzukommen. Bei der Ankunft des karibischen Quartetts im Jahr 2011, so erzählte der Anifer Jugendtrainer Mike Rosbaud den Salzburger Nachrichten, besaßen die Ankömmlinge: "Nichts! Alle vier haben von der Hand in den Mund gelebt." Der Verein, Zulieferer der Red-Bull-Fußballwelt, organisierte den Unterhalt.

An Komplimenten bei den Probetrainings und internationalen Turnierveranstaltungen hat es nie gemangelt. Der große Frank de Boer etwa, damals bei Ajax Amsterdam verantwortlich, sagte über den 15-jährigen Bailey, er sei "schon jetzt besser als manche Spieler aus unserer ersten Elf". Die Kombination aus Technik und Tempo sei außergewöhnlich - "er hat keine Schwachpunkte". Trotzdem griff Ajax nicht zu, man hatte Angst vor Problemen mit den Behörden und der Fifa. So zogen Butler und sein Stiefsohn weiter. Die Mühsal und die Ungewissheiten dieser Zeiten, meint Leverkusens Manager Jonas Boldt, "das ist vielleicht das, was Leon stark gemacht hat - dass er nicht all die Jahre betätschelt und gehätschelt wurde".

"Ein Diener der Mannschaft"

Bailey gehört zu einer Sorte von Fußballern, die jetzt wieder idealisiert wird, nachdem man erkannt hat, dass die normierte Ausbildung in den Leistungszentren zu einem gewissen Konformismus geführt hat: "Leon ist lebensfroh und eben nicht so aalglatt", sagt Boldt. Er ist mit dem Ball ein Individualist, aber kein Egozentriker. Er hat seine Eigenarten, aber er ist fleißig und diszipliniert. "Er ist ein Diener der Mannschaft, manchmal sogar zu sehr", sagt sein Trainer Heiko Herrlich und stellt dann eine Szene aus dem 0:0 in Freiburg nach, in der Bailey vor dem Tor den Ball erhält. "Er kriegt ihn auf den linken, braucht ihn eigentlich nur aufs Tor zu bringen - aber dann will er halt unbedingt Lucas (Alario, d. Red.) bedienen." Als Trainer ist man da hin- und hergerissen. Selbstlosigkeit ist kein schlechtes Zeichen, doch ein Torjäger muss den Abschluss suchen. "Aber die Entwicklung ist gut", sagt Herrlich, "er ist geerdet, und er integriert sich. Leon ist ein guter Junge mit einem guten Charakter."

Die Frage ist, ob ein 20-Jähriger, den längst viele internationale Großvereine beobachten, ein guter Junge bleiben kann. Diese Frage richtet sich vor allem an sein sogenanntes Umfeld, also an seinen Manager, Stiefvater und Lehrmeister. Craig Butler hatte Bailey einst in Kingston auf der eigenen Fußballschule ausgebildet und später nebst zwei Mitschülern nach Europa gebracht, er ist unbestreitbar die Lokomotive dieser fast poetischen Karriere - obschon auch ein paar verwegene Geschichten über den streitbaren Mister Butler erzählt werden. So ließ er einmal Leon und dessen zwei Kameraden vier Monate quasi herrenlos in Genk zurück, damals waren sie erst 15 Jahre alt, und der Verein musste sich um die Jungen kümmern. Als Butler wieder auftauchte, behauptete er, in Mexiko entführt und gefangen gehalten worden zu sein. Neulich erschien er im Presseraum der BayArena und schwärmte vor den Reportern von seinem Zögling: Prinzipiell geht er dann nicht mit falscher Bescheidenheit vor. "Leon ist nicht wie Ronaldo und Messi, er ist einzigartig. Es gibt keinen Spieler wie ihn."

Trainer Herrlich ist vorsichtig: "Es kommt auf den Kopf an: Bleibt er bodenständig?"

In Leverkusen sind sie wegen solcher Sätze nicht beunruhigt. "Butler hat seinen Stolz", sagt Jonas Boldt, doch bisher habe man keine unguten Erfahrungen gemacht. Vielleicht noch ein bisschen mehr als auf die Seriosität des Beraters vertrauen die Leverkusener auf den bis 2022 laufenden Vertrag mit Bailey, der keine Ausstiegsklausel enthält. Heiko Herrlich ist ohnehin vorsichtig: "Er hat viel Potenzial. Das zeigt er Woche für Woche. Doch es kommt auf den Kopf an: Bleibt er bodenständig? Hat er auch in ein paar Jahren noch den Biss und den Hunger?"

In einem - ausnahmsweise bewilligten - Interview mit Sport-Bild hat Bailey jetzt erzählt, dass es damals zu Hause in Kingston ein Poster von Arjen Robben gab, "es ist verrückt, dass ich jetzt gegen den Mann spiele, der früher als Poster an unserer Wand hing". Während sich der Traum seiner Reisegefährten, die mit ihm aus Jamaika nach Europa aufgebrochen waren, bei St. Andrews FC in der ersten maltesischen Liga allenfalls spärlich erfüllt, empfängt Bailey Prophezeiungen, er sei "der nächste 100-Millionen-Euro-Transfer" (so Reiner Calmund). Die Fans in der alten Heimat sind stolz auf ihn, aber sie sind auch ein wenig traurig. In Jamaikas Nationalelf wird Bailey wohl nicht spielen. Medienberichte, wonach der englische Nationaltrainer Gareth Southgate ihn noch vor der WM zügig einreihen möchte (mithilfe der britischen Pässe zweier Großeltern), hält man in Leverkusen für glaubhaft. Ein gewisser Verdacht ist allerdings auch dabei: dass Southgate womöglich nicht nur ans Nationalteam, sondern auch an die Premier League denkt. Mit einem britischen Pass bekäme Bailey sofort die Arbeitsgenehmigung für die Liga, die ihm gegenwärtig aus formellen Gründen wohl verweigert würde.

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