Nationalspieler:Bastian Schweinsteiger - großes Tennis, alter Mann

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Bastian Schweinsteiger entwickelt nach seinem Tor gegen die Ukraine ein völlig neues Jobprofil. Ganz egal, ob er fit ist: Ihm genügt es, bei Turnieren einfach Spiele zu entscheiden.

Von Christof Kneer

Und nun das Wetter: An diesem Dienstag sind für Évian-les-Bains 13 Grad und 90 Prozent Regenwahrscheinlichkeit vorhergesagt, was sich nach den Erfahrungen des vergangenen Wochenendes wie 10 Grad und 100 Prozent Regenwahrscheinlichkeit anfühlen dürfte. Für Mittwoch wird immerhin eine markante Wetterbesserung erwartet (15 Grad/75 Prozent Regenwahrscheinlichkeit), aber auch der Rest der Woche lässt vermuten, dass Bundestrainer Joachim Löw sein bereits jetzt legendäres graues Kurzarm-Hemd aus Lille nicht wird gebrauchen können, es sei denn, er zieht sieben davon übereinander. Allerdings, und das ist die gute Nachricht, wird der DFB-Teambus die Steigung vom Trainingsplatz zum Mannschaftshotel Ermitage aller Voraussicht nach auch weiterhin ohne Schneeketten in Angriff nehmen können.

Bastian Schweinsteiger ist ein Freund der Sonne, wie man nicht erst seit dem Campo Bahia weiß, jenem Mannschaftsquartier in Brasilien, das so legendär ist, wie es Löws T-Shirt nie werden kann. Es gibt eine Sequenz aus dem WM-Film "Die Mannschaft", die Bastian Schweinsteiger beim Sprung ins Wasser zeigt, und man kann leider recht deutlich hören, wie er dabei "Danke, Sepp Blatter!" ruft. Später hat sich Schweinsteiger öffentlich von dem kleinen Lustschrei distanziert; er habe natürlich nur das Wetter in Brasilien gemeint, nicht diesen Funktionär.

Schweinsteiger-Zahlen

14 EM-Einsätze hat Schweinsteiger. Damit stellte er den deutschen Rekord von Philipp Lahm ein. Das Tor gegen die Ukraine war der 24. Länderspieltreffer von Schweinsteiger - damit zog er an Lothar Matthäus vorbei. 25 Titel hat Schweinsteiger als Profi gewonnen - ihm fehlt jedoch der EM-Titel. Er hat 116 Länderspiele bestritten. Schweinsteiger ist damit die Nummer vier der ewigen DFB-Länderspiel-Liste, hinter Matthäus (150), Miroslav Klose (137) und Lukas Podolski (128). 530 Meter lief Schweinsteiger laut offizieller Uefa-Statistik im Spiel - der Jubel-Sprint nach dem Tor war nicht mitgerechnet. sid

Vom Wetter in Évian hat sich Bastian Schweinsteiger bisher noch nicht öffentlich distanziert. Aber warum sollte er auch? Er kann es ja ändern.

Im Moment ist Bastian Schweinsteiger der Wettergott im deutschen Team. "Sein Tor gibt ihm persönlich, aber auch uns allen Auftrieb", hat Joachim Löw nach dem 2:0-Auftaktsieg gegen die Ukraine gesagt. Löw ist einer der weltweit führenden Experten für Auftaktspiele, er hat in seiner Zeit als Bundestrainer alle fünf Auftaktspiele gewonnen (Torverhältnis 13:0), und so kann kaum einer besser beurteilen als er, welche Magie in so einem ersten Sieg stecken kann. Das ist die Dimension von Schweinsteigers Tor in der Nachspielzeit: Er hat nicht nur den Sieg abgesichert und das Torverhältnis sehr glücklich gemacht. Vor allem hat er Deutschland gleich beim ersten Auftritt eine Geschichte geschenkt - eine schön sonnige Geschichte praktischerweise, die der Mannschaft dabei helfen dürfte, die sieben Tage Regenwetter vor dem Hotelfenster vorübergehend in ein "Heiter bis wolkig" umzudeuten.

Drei Spielminuten haben einstweilen ausgereicht, um Löws Idee mit Schwein-steiger zu legitimieren. In jener Szene, die zum 2:0 führte, war alles enthalten, was man im Moment über diesen Spieler wissen muss: Als der gerade erst eingewechselte Schweinsteiger loslief, meinte man noch das Aufjaulen eines gequälten Motors zu vernehmen, es war der Motor einer altehrwürdigen Nobelkarosse, die schon eine Weile nicht mehr bewegt worden ist und sich erst wieder daran erinnern muss, wie das so war auf der linken Spur. Aber als er dann mal in Fahrt war, verwandelte sich der altehrwürdige Schweinsteiger sogleich in jenen Wettkämpfer, der die Reflexe des Wettkampfes immer noch so verlässlich intus hat, dass er sie binnen Sekunden wieder aktivieren kann.

Schweinsteiger sprintete also weiter, schaute nach rechts raus zum Assistenten, kein Abseits, sprintete weiter, schaute noch mal rechts raus, immer noch kein Abseits, und dann - wieder ein kleines Aufjaulen - schaltete er noch mal hoch, erhöhte noch mal das Tempo, und dann begriff er endgültig, dass er vor sich nur noch den Torwart und das Tor hatte und ganz viel freien Raum. Er gestikulierte, einmal, zweimal, und dann kam der Ball auch schon angeflogen, und der alte Wettkämpfer hatte leider überhaupt keine Zeit, darüber nachzudenken, dass er ja eigentlich gar keine Spielpraxis hat.

"Für eine Halbzeit könnte es schon reichen", sagt der Kapitän

Schweinsteiger traf den Ball genau so, wie er ihn treffen musste, und bei seinem anschließenden Jubellauf hörte man nicht mal mehr den Motor jaulen. Es war halt bloß kein Benzin mehr im Tank.

Schweinsteiger, 31, steht offiziell bei Manchester United unter Vertrag, aber inoffiziell ist er gerade dabei, ein im Weltfußball völlig neues Jobprofil zu entwickeln. Es gab zwar immer wieder Spieler, die pünktlich bei Turnieren zu großer Form aufgelaufen sind, aber es gab wahrscheinlich noch nie einen Spieler, bei dem es allmählich völlig wurscht zu sein scheint, was er zwischen den Turnieren macht. Ob er in München oder in Manchester spielt, ob er gut oder schlecht spielt, ob er überhaupt spielt, ob er zu den Tennisturnieren seiner Freundin Ana Ivanovic fliegt, ob er gesund im Flieger sitzt oder mit einem Innenbandanriss im Knie. Bastian Schweinsteiger ist auf dem besten Weg, der erste reine Turnierspieler der Fußballgeschichte zu werden - er nimmt sich unterm Jahr seine Pause, aber wenn die Welt zuschaut, haut er mal eben sein bestes Tennis raus.

Er habe im Jahr 2016 "vielleicht 300 Minuten auf dem Platz gestanden", hat Schweinsteiger später gesagt, einem Innenbandanriss im Januar hat er kurz nach der Gesundung im März gleich die nächste Innenbandverletzung folgen lassen. Sein Tor gegen die Ukraine dürfte der schönste Moment seit seinem Abschied aus München gewesen sein, zumindest, wenn man die gelungenen Vorhandschläge von Ana Ivanovic nicht mitrechnet (die zuletzt aber auch weniger geworden sind). Schweinsteiger weiß, dass seine Unbeugsamkeit und seine Wettkampfhärte in einem Team mit samtpfötigen Özils und Götzes immer noch dringend gebraucht werden, aber er weiß auch, dass er im Moment nur in kleinen Dosen liefern kann. "90 Minuten kann ich sicher noch nicht spielen", sagte Schweinsteiger, "aber für eine Halbzeit könnte es schon reichen."

In Schweinsteiger hat sich genügend produktiver Trotz angesammelt, um den Gegnern wieder gefährlich zu werden. Gegen seine herrlich kitschige Geschichte hat er sich selber natürlich auch nicht wehren können, aber später in der Nacht, als das erste selige Leuchten aus seinem Gesicht verschwunden war, hat er wortkarg das Stadion verlassen. Vielleicht wollte er demonstrativ ein bisschen übel nehmen, denn natürlich haben ihm die öffentlichen Fragezeichen vor diesem Spiel nicht gefallen: Ob es vernünftig war, den alten Mann mitzunehmen? Ob der je wieder richtig fit wird? Und ob er überhaupt in Manchester bleiben darf, nun, da sein schräger Förderer Louis van Gaal vom andersartig schrägen José Mourinho abgelöst wird?

Tief drinnen in seinem Wettkämpferherzen wird Bastian Schweinsteiger es wahrscheinlich genossen haben, dass nach dem Spiel plötzlich ganz andere Fragen gestellt wurden. Zum Beispiel jene, wer aus Löws Mannschaft weichen muss, wenn der alte Mann demnächst wieder länger spielen kann als nur eine Nachspielzeit.

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