Baseball:Eine Ziege namens Murphy

Baseball: Ausholen zum großen Schlag: Javier Baez (23, rechts) steht stellvertretend für das junge Cubs-Team, das mit der Vergangenheit abschließen will.

Ausholen zum großen Schlag: Javier Baez (23, rechts) steht stellvertretend für das junge Cubs-Team, das mit der Vergangenheit abschließen will.

(Foto: Charles Rex Arbogast/AP)

Weltweit wartet kein Profiklub länger auf die nächste Meisterschaft als die Chicago Cubs: Nach 108 Jahren schicken sie sich an, den Titelfluch zu bannen.

Von Joachim Mölter

Bei den Baseballern der Chicago Cubs haben sie sich etwas gedacht, als sie neulich bei der Dachorganisation Major League Baseball (MLB) beantragten, ihre Heimspiele in der Halbfinalserie gegen die Los Angeles Dodgers zu einer schrägen Zeit beginnen zu lassen: Nicht wie üblich zur vollen oder zur halben Stunde wollten sie anfangen, in diesem Fall um sieben Uhr abends - sondern erst um acht nach sieben. In der MLB-Zentrale in New York hat man die Absicht natürlich erkannt und gleich auch die Auswärtspartien offiziell so terminiert. Der Anwurf zur dritten Partie der Best-of-seven-Serie an diesem Dienstag in Los Angeles findet nun ebenfalls um acht nach sieben Uhr Ortszeit statt. Oder, anders ausgedrückt: um 19:08 Uhr.

Diese vier Ziffern spielen eine symbolträchtige Rolle in der Geschichte der Chicago Cubs, die immerhin bis ins Jahr 1876 zurückreicht. Vor 140 Jahren gehörte der Klub zu den acht Gründungsmitgliedern der National League, die mit der später ins Leben gerufenen American League Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zur MLB fusionierte. In der Anfangszeit des professionellen Baseballs waren die Chicago Cubs sogar die dominierende Mannschaft ihrer Liga, aber es ist schon eine Weile her, dass sie die Meisterschaft gewonnen haben, die sogenannte World Series. Zuletzt war das im Jahr 1908.

108 Jahre, länger wartet wohl kein Profiteam weltweit auf seinen nächsten Titelgewinn, was natürlich auch daran liegt, dass viele Klubs nicht einmal so alt sind. Aber nun schicken sich die Chicago Cubs an, ihr in Jahrzehnten der Erfolglosigkeit gefestigtes Image von den Lovable Losers, den liebenswerten Verlierern, loszuwerden. Sie haben die 162 Partien der Hauptrunde als bestes Team abgeschlossen, mit 103 Siegen, und sind als Titelfavorit in die Playoffs eingezogen. Doch die großen Erwartungen sind am Sonntagabend gedämpft worden, da glichen die L. A. Dodgers mit einem schmucklosen 1:0 in Chicago die Serie zum 1:1 aus. Und die Fans fragen besorgt: Werden es die Cubs wieder vermasseln, wie schon so oft? Oder werden sie die 108 Jahre des vergeblichen Strebens endlich zu einem Happy End bringen?

Das Magazin Sports Illustrated hat das Schicksal der Chicago Cubs im Frühsommer als "letzte große Geschichte des amerikanischen Sports" betitelt. Alle anderen großen Geschichten sind ja mittlerweile abgeschlossen: Das Darben der wirtschaftlich gebeutelten Stadt Cleveland nach einem nationalen Titel in irgendeinem Profisport beendeten die von LeBron James angeführten Basketballer der Cavaliers im Juni nach 52 Jahren. Die Jagd nach der Triple Crown im Galoppsport, dem Gewinn einer Serie von drei prestigeträchtigen Rennen, wurde 2015 abgeblasen - nach 37 Jahren und dem Triumphzug des Hengstes American Pharoah. Und die Baseballer der Boston Red Sox brachen bereits 2004 einen Titelbann, der 86 Jahre gewährt hatte.

Weil der Lokalbesitzer Billy Sianis 1945 nicht ins Stadion durfte, sind die Cubs bis heute verflucht

Zu verdanken hatten das die Red Sox damals einem Wunderkind, das sie zwei Jahre zuvor engagiert hatten: Theo Epstein. Der Absolvent der Elite-Universität von Yale - studierter Historiker und Jurist sowie leidenschaftlicher Baseball-Fan - war bei seinem Einstieg in die Geschäftsführung der Red Sox erst 28 Jahre alt; damit ist er bis heute der jüngste Manager der MLB-Geschichte geblieben. Epstein legte mit wissenschaftlichen Analysen und Kriterien die Basis für ein Team, das mittlerweile dreimal die World Series gewonnen hat. Er hat sich freilich längst aus Boston verabschiedet, vor fünf Jahren nahm er sich der noch viel länger erfolglosen Cubs in Chicago an. "Alle meine Freunde haben mir abgeraten", erzählte er, "sie haben gesagt, der Job dort wäre ein Karriere-Killer."

Doch auch in Chicago gelang es ihm, einen traditionsreichen, aber siechen Klub zu reanimieren. Mit einem langfristigen Konzept sammelte er talentierte Profis für alle Positionen ein, die sich viel schneller entwickelten, als Epstein selbst erwartet hatte. Unter Anleitung des 2014 aus Tampa geholten Joe Maddon, 62, eines äußerst unkonventionellen Trainers, erreichten die Cubs bereits im vorigen Jahr das Halbfinale, wo sie gegen die routinierteren New York Mets ausschieden. Nun erscheinen sie soweit gereift, dass der erste Finaleinzug seit 1945 realistisch erscheint - wenn da nicht Murphys Gesetz wäre.

Diese auf einen amerikanischen Ingenieur zurückgehende Weisheit besagt, dass alles schiefgeht, was schiefgehen kann. In Chicago bezeichnet man damit einen Fluch: Der Legende nach wollte ein gewisser Billy Sianis, Besitzer der nahegelegenen "Billy Goat Tavern", im Oktober 1945 das vierte Finalspiel gegen die Detroit Tigers besuchen - als Glücksbringer hatte er eine Ziege namens Murphy mitgebracht, das Maskottchen seines Lokals. Er hatte sogar eine Eintrittskarte für das Tier erstanden, wurde jedoch am Eingang abgewiesen: Die Ziege würde mit ihrem Gestank andere Zuschauer belästigen, hieß es. Woraufhin Billy Sianis erbost abzog und dabei laut gerufen haben soll: "Die Cubs werden nie mehr was gewinnen!" In der abergläubischen Sportszene gilt das seitdem als "Der Fluch von Billy Goat".

Die "Billy Goat Tavern" gibt es noch heute, ebenso wie das Stadion Wrigley Field, in dem die Cubs seit genau 100 Jahren spielen. Es ist das älteste Sportstadion der USA, die Mauern sind so umrankt von Efeu wie die Cubs von Mythen. Im Lauf des Jahrhunderts wurde Wrigley Field einige Male modernisiert: Für die Jubiläumssaison, die 100., erhielt es zwei riesige Videoleinwände; die bis vor einem Jahr per Hand betriebene Anzeige mit den schon historischen Nummerntäfelchen blieb jedoch stehen - als Erinnerung an gute, schlechte, in jedem Fall alte Zeiten. Die lange in ihrer Tradition erstarrten Cubs wollen freilich nicht nur mit den Videowänden ein neues Zeitalter einläuten. Auch wenn es demnächst beginnen soll, um 19:08 Uhr.

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