Badminton:Größe 36

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Was genau war noch Fair Play? Ein seltener Fall von Hilfsbereitschaft bewegt weltweit die Badminton-Anhänger.

Von Volker Kreisl, München

Irgendwann auf der Rückfahrt kam dieser Gedanke auf. Im Shuttle von der Arena zum Hotel in La Roche-sur-Yon saß eine Gruppe Badminton-Delegierter, Holger Hasse, der deutsche Cheftrainer, war auch dabei. Man sprach über das denkwürdige Spiel von Karin Schnaase, und irgendjemand, sagt Hasse, hatte dann die Idee mit der Wildcard. Mit der kann der Weltverband auch Athleten ohne Olympia-Nachweis zu den Spielen schicken, meist sind es welche aus schwächeren Verbänden. "Die muss doch eigentlich die Sarosi jetzt kriegen", sagte Hasse, "und alle waren sich einig." Ja, wenn einer so eine Wildcard verdient habe, dann die 23 Jahre alte Laura Sarosi aus Ungarn.

Es ist schwer nachzuvollziehen, aus welcher Ecke der Gedanke zuerst kam, ob aus Hasses Shuttle-Bus, aus anderen Gesprächen oder direkt aus dem Internet. Jedenfalls flog er seit der Europameisterschaft in Frankreich immer höher und wilder hin und her wie ein Federball in einem guten Match, und mittlerweile gibt es eine Online-Petition für Sarosis Wildcard. 4100 User haben schon unterschrieben, täglich kommen gerade circa 100 hinzu. Das Fachmagazin Badminton Bluffers schreibt: "Was Sarosi tat, umarmt tatsächlich den Olympischen Geist." SportSkeeda, das größte Sport-Portal in Indien erklärt: "In Sarosi hat das Badminton eine Botschafterin für echten Sportsgeist." Und überall ist nun die Rede von der olympischen Idee und vom Fair Play, also von abgegriffenen und kommerziell vereinnahmten Begriffen, denen Sarosi nun wieder eine Bedeutung eingehaucht hat, und zwar vermutlich ganz einfach, weil sie für einen Moment nicht groß nachgedacht, sondern gehandelt hatte.

In den Schuhen der Gegnerin: Karin Schnaase vertritt die deutschen Farben in Rio. (Foto: Eddy Lemaistre/dpa)

In diesem ersten Satz des ersten Matches des letzten Qualifikationsturniers für Rio war die Spannung spürbar, sagt Hasse. Schnaase lag zurück und dann brach auch noch die Sohle ihres Schuhs. Weiterspielen war undenkbar, Badminton ist ja ein Lauf- und Springsport. Ersatz hatte Schnaase nicht in ihrer Tasche, und bis von irgendwoher vielleicht ein zweites Paar beschafft worden wäre, hätte sie mit geflickter Sohle spielen müssen. Aber dazu kam es nicht. Denn Sarosi hatte in ihre eigene Tasche gegriffen und der Gegnerin ihr Ersatzpaar gereicht.

Offensichtlich hatte Sarosi nicht im Geiste das Für und Wider abgewogen. Hatte nicht daran gedacht, dass sie ja nach einem langen Überseeflug in Frankreich eingetroffen und angeschlagen war, und dass eigentlich keine Zeit für gute Taten war. Auch hatte Sarosi wohl nicht den inneren Fair Player vom inneren Profi überstimmen lassen. Der könnte in etwa gehaucht haben: So eine Geste ist ja ganz nett, aber morgen redet keine Sau darüber! Stattdessen verpasst du Rio, obwohl du hier die um 40 Weltranglistenplätze bessere Deutsche Karin Schnaase am Rand der Niederlage hast! Sarosi hat diese Gedanken nicht beachtet, auch nicht die üblichen Alibis für Schwalben, Fouls, Psycho-Tricks und sonstiges Unfair Play: die Interessen der Mannschaft, der Fans, der Sponsoren. Sarosi achtete wohl gerade mehr aufs Wesentliche. Die Schuhgröße passte: 36.

Dass Sport andererseits kein Märchen ist, zeigte sich dann auch recht schnell. Schnaase gab den ersten Satz zwar ab, erholte sich aber, auch weil Hasse in der Zwischenzeit ein eigenes Ersatzpaar beschafft hatte. Am Ende gewann sie klar, und weil es ja auch zum Fair Play zählt, dass der Begünstigte sich für den Nutzen nicht zu schämen braucht, freute sich die 31-Jährige aus Lüdinghausen am Ende zu Recht über ihre erste Olympiateilnahme. Von jetzt an ist alles auf Rio ausgerichtet: Vielleicht versucht sie, über weitere Turniere ihre Setzlistenposition zu verbessern, vielleicht trainiert sie noch systematisch an ihrer Form. Sarosi dagegen, schreibt Indiens Sport Skeeda, "fährt heim und versucht's das nächste Mal".

Die eigene Sache hat nicht geklappt, einen Denkanstoß hat sie dennoch gegeben. Das kleine Beispiel der Schuhe erinnert ganz gut daran, worum es im Kern bei Olympia gehen sollte. Nämlich nur um die eigene Leistung, die schon eingeschränkt ist, wenn sie von der Schwächung des Gegners profitiert. "Individuelles Streben nach der eigenen Höchstleistung, ohne auf den anderen zu schauen, genau das ist der olympische Gedanke", sagt Hasse. Das klingt im modernen Wettbewerb naiv, andererseits ist der olympische Gedanke ja keine BWLer-Tugend und darf dies deshalb auch sein: naiv.

Hasse jedenfalls hat die Online-Petition unterschrieben, und falls eine Kommission sich der Sache annimmt, stünde er als Zeuge zur Verfügung. Und vielleicht kommt Laura Sarosi im August noch überraschend nach Rio und der Sport ist doch ein Märchen.

© SZ vom 07.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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