Australier in Melbourne:Die Last der tausend Gesichter

2017 Australian Open - Day 3

Nicht immer gehorcht ihm sein Schläger: Nick Kyrgios testete mal wieder die Geduld des australischen Publikums.

(Foto: Clive Brunskill/Getty Images)

In Melbourne entwickeln die Einheimischen zu jedem ihrer Spieler eine spezielle Beziehung. Niemand testet ihre Geduld so wie der extrovertierte Nick Kyrgios.

Von Gerald Kleffmann, Melbourne

Die kurze Erfolgsgeschichte von Alex De Minaur war ein Träumchen für die Australier. Der 17 Jahre junge Tennisprofi aus Sydney hatte eine Wildcard erhalten für diese Australian Open, besiegte den Österreicher Gerald Melzer, wehrte dabei einen Matchball ab, pumpte sich auf, die Fans feierten ihn. "Er ist ein Mini-Hewitt", sagte kein Geringerer als Lleyton Hewitt selbst, die frühere Nummer eins, berühmt für seine Kampfkunst. Sein väterliches Verhältnis zu De Minaur wurde hübsch ausgeschlachtet. De Minaur erzählte, wie er zwei Wochen bei Hewitt wohnte, den Hewitt-Geist aufsaugte. Auch tauchten Fotos auf, auf denen De Minaur tanzend im Ballettkleid zu sehen war, aufgenommen bei einer internen Veranstaltung des australischen Tennisteams. Auch dafür wurde er gefeiert, Sportsmanship gepaart mit Selbstironie kommt hier an. Erst als De Minaur in der zweiten Runde der Australian Open gegen den Amerikaner Sam Querrey ein Debakel erlebte, herrschte Schweigen auf Court 2.

Stolz sind sie trotzdem auf das Talent, es ist ja so, dass in Melbourne beim ersten Grand-Slam-Turnier des Jahres die Einheimischen zu jedem ihrer Spieler eine spezielle Beziehung entwickeln. Viel intensiver, als es etwa bei den deutschen Turnieren mit deutschen Spielern passiert. Ashleigh Barty zum Beispiel, die 20-Jährige, war ein Wunderkind, stieg vor zwei Jahren aus, spielte professionell Cricket, kehrte zurück und hat nun die dritte Runde erreicht, sie unterlag Mona Barthel knapp. Solche Sportler erhalten ungeteilte Unterstützung. Samantha Stosur, 32, ist die Grande Dame, die respektiert wird, Destanee Aiava das Küken, das fürsorglich aufgemuntert wird. Die 16-Jährige ist die erste Grand-Slam-Teilnehmerin, die in die in diesem Jahrtausend geboren wurde. Daria Gavrilova, 22 (Foto auf Seite 37), in Moskau geborene Russin, ist die stolze Eingebürgte, sie mögen sie für ihre extrovertierte Körpersprache. Bei Sam Groth, dem Kanonier, schätzen sie dessen Urkraft, ein echter "Ozzie".

Wenn einer aber die Werte der sportverrückten Nation verrät, lassen sie das den Sportler spüren. Bernard Tomic, der selbstherrliche Harthitter, der zum Besten gab, er habe eine bessere Fitness als viele Top-Ten-Spieler, wird gerne härter angepackt.

Wie auch Nick Kyrgios. Und doch ist er ein anderer Fall. Er ist Fall Nummer eins. Und weil sie nicht wissen, ob sie ihn lieben oder hassen sollen, lieben und hassen sie ihn zugleich. Das hat sich bei diesen Australian Open nicht geändert, sondern dieser Zustand hat ein neues Hoch erreicht. Oder Tief, je nach Perspektive.

Kyrgios trägt die Bürde, die Australier zu erlösen, zumindest wird ihm das am ehesten zugetraut. Große Tennisnationen können unerbittlich sein mit ihren Sehnsüchten. Tim Henman, der gebildete Engländer, scheiterte regelmäßig am Druck, seinen Briten einen Titel schenken zu wollen im heiligen Wimbledon. Andy Murray hat es dann geschafft, 77 Jahre nach Fred Perry war er der erste. Murray hat daraufhin seine Managementfirma "77" genannt, auch ein Ausdruck der gewaltigen Erleichterung, von der Kyrgios weiter denn je entfernt ist. Er ist ausgeschieden, gegen den Südtiroler Andreas Seppi, in Runde zwei, und jetzt kocht wieder alles hoch, die Sehnsucht, die Empathie, aber auch Enttäuschung, Unverständnis, Frust.

Jeden Tag wird Kyrgios in den Medien rundgemacht, der Bad Boy bot seinerseits sofort verlässlich Angriffsflächen.

Kyrgios hat das Glück und das Pech, dass er mit der Lupe gescannt wird

Anfangs jubelten die Zuschauer, als er gegen Seppi mit 2:0 Sätzen führte, am Ende, als er mal wieder einen lustlosen Schlag durch die Beine wagte, buhten sie. Weh tat ihm das, das gab er zu. Er hätte es dabei belassen können bei einer Pressekonferenz. Aber dann offenbarte der 21- Jährige aus Canberra, Sohn eines Griechen und einer Halb-Malaysierin, seine tausend Persönlichkeiten. "Die seltsame Welt des Nick", titelte die Herald Sun treffend und befand, Kyrgios habe "wieder einen psychologischen Absturz erlebt, der seine mentalen Dämonen entblößte".

Da saß er lümmelnd und zeigte sich "tief enttäuscht". Äußerte Einsicht, "ich hatte nicht die beste Vorbereitung", aufgrund seiner Knie-Beschwerden hatte er Kortisonspritzen erhalten. Seine Niederlage tat ihm leid für sein Team, "sie opfern so viel, damit ich nach oben komme". Aber er sagte auch zynisch, er verdiene alle Kritik, "ich bin ein schlechter Kerl". Er habe "ein mentales Problem". Er kündigte an, er wolle doch, nach zwei Jahren ohne Coach, einen Coach nehmen. "Ich glaube, ich bin der Einzige in den Top 100 ohne", sagte er.

Eines steht fest: John McEnroe wird es schon mal nicht. Die frühere Größe hatte gemeint, Kyrgios verpasse mit seinen lustlosen Spielphasen Tennis "ein blaues Auge". Kyrgios giftete nun zurück. Mehrmals sagte er, bei allgemeinen Fragen: "Fragt John Mack. Er weiß alles."

Im Grunde muss man Kyrgios aber verstehen. Sobald er etwas macht, wird es kommentiert. Jeder gibt ihm Ratschläge. Dann schlägt er zurück. Dann Phase drei: Er taucht ab. Genau das will er jetzt machen. So dreht sich das Hamsterrad weiter.

Kyrgios hat das Glück und das Pech, dass er mit der Lupe gescannt wird. Er ist Werbebotschafter einer großen US-Sportbekleidungsfirma. Kinder himmeln ihn an, wie vorige Woche, bei einem Show-Event. Als er ein T-Shirt mit einem harten Spruch gegen Donald Trump trug, wurde er dafür gewürdigt. Aber er kann auch das Pöbeln nicht lassen. Stan Wawrinka sagte er mal bei einem Seitenwechsel, sein Kumpel Thanasis Kokkinakis habe Wawrinkas Freundin "genagelt". Schiedsrichter kennen sein Gezeter. Lange wurde Milde angelegt, die Tour braucht Kyrgios, er ist eines der jungen Star-Gesichter. Aber im Herbst konnten sie nicht wegsehen. Er hatte in Shanghai das Match gegen den Deutschen Mischa Zverev absichtlich lustlos spielend verloren. Seine Sperre konnte er auf drei Wochen verkürzen, weil er wie gefordert zum Psychologen ging.

Eine Pleite wie gegen Seppi ist dann wieder der Auslöser für Kritik. Kyrgios würde nicht mal 15 Minuten am Tag trainieren, sagte sein früherer Trainer John Eagle. Er selbst räumte ein, er hätte zuletzt nur Basketball gespielt. 14. der Weltrangliste ist er trotzdem, und genau das macht alle noch fassungsloser. Sie sehen das Potenzial. Das Ballgenie. Aber Kyrgios macht nicht mit - und kein Geheimnis aus seinem schizophrenen Verhältnis zu seinem Beruf. "Ich versuche Tennis für mich interessant zu machen oder wenigstens weniger furchtbar." Er hat auch schon angekündigt, nur noch ein paar Jahre spielen zu wollen.

In Melbourne wurden sogar die Besten der Branche um Expertise gebeten. Andy Murray verteidigt Kyrgios seit jeher eisern. Roger Federer war wie immer weise und verkniff sich Tipps, Kyrgios müsse diese ja eh von allen hören. "Alle Fragen, wohin die Reise geht, werden in den ersten fünf Jahren als Profi beantwortet", sagte Federer aber. Im nächsten Jahr wäre diese Karenzzeit für Kyrgios vorbei. Aktuell glaubt Federer jedoch, Kyrgios könne keine großen Turniere gewinnen, "aber ich wäre glücklich, wenn er mich eines Besseren belehrt".

Da sprach er Tennis-Australien aus der Seele. Denn auch nach diesen Open sind sie ratlos, ob die Geschichte ihres größten Talents happy enden wird.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: