Australian Open:Mischa Zverev spielt gegen Murray wie ein Panther

Australian Open: Mischa Zverev: "Ich war im Tunnel, Aufschlag, Volley, ich weiß nicht, wie ich manche Punkte gemacht habe."

Mischa Zverev: "Ich war im Tunnel, Aufschlag, Volley, ich weiß nicht, wie ich manche Punkte gemacht habe."

(Foto: AP)
  • Bei den Australian Open hat Mischa Zverev überraschend den Weltranglistenersten Andy Murray besiegt.
  • Zverev stand in den vergangenen Jahren im Schatten seines jüngeren Bruders Alexander, der gestern knapp gegen Rafael Nadal verloren hatte.
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Von Gerald Kleffmann, Melbourne

Vor zwei Tagen saß Andy Murray im Pressekonferenzraum und war der perfekte Anwalt für Novak Djokovic. Ausgiebig und überzeugend hatte er, der Weltranglistenerste, ihn, den Weltranglistenzweiten verteidigt. Weil der Serbe ja so überraschend verloren hatte gegen den Usbeken Denis Istomin, einen prächtigen Außenseiter. Murray zählte die vielen Erfolge Djokovics auf, er erinnerte daran, dass der auch noch kürzlich in Doha das Turnier gewonnen habe. Eine Widerrede war nicht möglich, jedes Argument stach. Murray war in diesem Moment ein souveräner Branchenanführer, loyal gegenüber seinem gerade bei diesen Australian Open größten Widersacher; vier seiner fünf Finalniederlagen kassierte er in Melbourne gegen Djokovic. Jeder durfte nun Murray ab sofort uneingeschränkt als den Topfavoriten betrachten.

Und jetzt braucht er selbst einen Anwalt.

Murray ist nämlich auch ausgeschieden. Gegen den älteren der fabelhaften Zverev-Boys. Gegen Mischa, 29. Der hat das geschafft, was der jüngere Alexander, 19, tags zuvor so außergewöhnlich knapp verpasst hatte: die ganz große Überraschung. In seinem Fall ist sie sogar größer, als sie es bei einem Sieg Alexanders gegen Rafael Nadal gewesen wäre. In fünf intensiven Sätzen hatte sich der Spanier noch einmal durchgesetzt.

18.26 Uhr Ortszeit also. Mischa Zverev steht an der Grundlinie. 40:30. Matchball. Ein Aufschlag, und dann landet Murrays Vorhandreturn-Ball im Aus. 7:5, 5:7, 6:2, 6:4 siegte Mischa Zverev, als er nach 3:33 Stunden den Matchball verwandelt hatte. Er machte erst mal: nichts. Schaute ungläubig. Irritiert. Eine Sekunde, zwei, drei. Erst dann ein Lächeln. Und der Blick zu seiner Box, wo die Familie saß und auch sein Bruder jubelte.

"Ich habe keine Ahnung", das war das Erste, was Mischa Zverev sagte, als ihn Jim Courier, der frühere zweimalige Sieger hier, als Interviewer fragte, wie er diesen Triumph geschafft habe. "Ich war ein bisschen im Koma", befand er. Er sei sehr aufgeregt gewesen, aber in der Rod Laver Arena, vor 15 000 Menschen, zu spielen, das habe es ihm immer wieder erleichtert, sich zu fokussieren. Er habe erwartet, Fehler zu machen, am Netz vor allem. Er greift ja ständig an. 118 Mal gegen Murray allein. Fehler? "Aber es passierte nicht." Zverev schaute genau so, wie er sich fühlte. "Es fühlt sich unreal an." Es gibt so Tage. Istomin hatte ihn. Und Mischa nun.

Die Geschichte der Brüder Zverev erregt internationales Aufsehen

Alle Welt dachte, Alexander könnte eher noch Nadal besiegen und Mischa Murray eher nicht. Dass die beiden Brüder zusammen bei einem Grand-Slam-Turnier so weit gekommen waren, war ohnehin einen Eintrag ins Geschichtsbuch wert gewesen. Ihr gemeinsamer Weg wurde inzwischen auch von der internationalen Presse gewürdigt. Nun kam es genau andersrum. Alexander, scherzte Mischa, dürfe aber weiterhin als Erster durch die Tür gehen. Er stehe ja in der Weltrangliste vor ihm. 24. ist Alexander. Mischa noch auf Rang 50. Er wird nun indes mindestens den Sprung auf Rang 35 machen. Seine beste Platzierung (45.) zu verbessern, das hatte ihn immer wieder als Ziel angetrieben.

Murray hatte phasenweise ganz furchtbar gespielt, die Bälle zu kurz gelassen, keine Wege gefunden, sein zähes, den Gegner zermürbendes Grundlinientennis durchzuziehen. Das war aber auch natürlich das Verdienst von Mischa Zverev, der vorher noch gewusst hatte: "Wenn Andy sein bestes Tennis spielt, werde ich nicht viele Chancen haben." Das Schicksal dachte diesmal aber auch an ihn. Vor drei Jahren hatte er eine Handgelenksoperation zu überstehen, die ihn zurückwarf. Die letzten Jahre stand er zunehmend im Schatten seines Bruders, der spektakulär erst körperlich nach oben schoss und dann in der Weltrangliste. Aber seine Geschichte ist auch die, dass er sich am Erfolg des Bruders orientierte, einen guten Trainingspartner ständig hat - und so selbst wieder ein besserer Spieler wurde.

Murray sagt, er sei nicht müde gewesen

Murray darf sich aber auch selbst viel vorwerfen, auch wenn er sagte, Zverev habe den Sieg verdient. Im ersten Satz führte er mit 5:3, aber viel zu lässig gab er den Satz mit zwei Breaks in Serie ab. Im zweiten Satz führte er 3:0, 4:2, kassierte dann wieder den eigenen Aufschlagspielverlust. Bei einer 5:4-Führung verzockte er vier Satzbälle (drei bei 40:0), schaffte dann doch qualvoll das 7:5. Ivan Lendl, sein Trainer, saß wie immer wie eine Mumie auf der Tribüne. Stocksteif, ohne Zuckung. Manchmal hat man Sorge, ob er noch atmet.

Im dritten Satz zog Zverev einfach seine Art des Tennis stur durch, zwei Breaks, 6:2. Ab und nach vorne. Murray maulte immer wieder mal, viele seiner Bälle landeten im Netz. Er sei aber nicht müde gewesen, sagte er später. Aber er hätte besser aufschlagen können. Und in den ersten beiden Sätzen mehr Chancen nutzen müssen. Da hatte er recht. Murray hatte schlechter gespielt als Djokovic gegen Istomin (den Brad Gilbert Anti-Histomin nennt). Er hätte in vielen Momenten einfach "verkrampft", gab er zu. Der vierte Satz begann daher auch kein bisschen anders. Zverev gelang das Break. Spätestens jetzt war klar, dass sich der Topfavorit nicht nur schwer tat - sondern bald der Ex-Topfavorit werden könnte. Jetzt wollte jeder noch den letzten Platz im Stadion ergattern. Zverev musste nur noch seinen Aufschlag durch den Satz transportieren, nichts anderes, dann hätte er gewonnen.

Er schaffte es. Zverev war ein Panther am Netz. Um 18.26 Uhr schlug er auf. Es war sein letzter Schlag. "Es ist sehr enttäuschend zu verlieren", sagte Murray. "Aber er hat einige großartige Sachen da draußen gemacht." Zur Belohnung darf Zverev sein erstes Viertelfinale spielen - gegen Roger Federer.

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