Marta Kostjuk bei den Australian Open:Das kopflose Huhn

WTA-Tour - Australian Open

Gerne mal emotional: Marta Kostjuk bei den Australian Open.

(Foto: dpa)
  • Marta Kostjuk ist erst 15 Jahre alt und damit eine Attraktion bei den Australien Open.
  • Sie ist die jüngste Spielerin seit Martina Hingis, die die dritte Runde erreicht hat.
  • Sie lebt von ihrer Energie und ihrer Unbekümmertheit.

Von Gerald Kleffmann, Melbourne

Sie bog um die Ecke, setzte sich, schaute in den Main Interview Room und erschrak. "Oh, scary!", flüsterte sie. Furchterregend war das, was sie sah. Lauter Menschen, die plötzlich etwas von ihr wissen wollten. Natürlich hat sie sich dann nicht eingeschüchtert gezeigt, dieser Typ ist Marta Kostjuk nicht. Als sie zuvor ihren ersten Matchball in ihrem Zweitrundenmatch gegen die Australierin Olivia Rogowska hatte, hatte sie den Ball mit dem ersten Aufschlag aufgrund der hoch stehenden Sonne falsch getroffen, er landete direttissima in den Rängen der Margaret Court Arena, dem drittgrößten Stadion der Australian Open. Ein Desaster.

"Challenge!", rief sie kess zur Schiedsrichterin. Sie hatte in dieser Sekunde, in der sie kurz davor war, Geschichte zu fabrizieren, die Chuzpe, den im Tennis möglichen Videobeweis anzufordern.

Dieser Typ ist Kostjuk.

Sie weiß, dass sie eine spezielle Spielerin ist

Unerschrocken und selbstbewusst eben. Aber das muss ihr keiner sagen, sie weiß, dass sie eine spezielle Spielerin ist. "Ich stelle jedes Jahr Rekorde auf, das ist normal für mich", das hatte sie nach ihrem Erstrundensieg gegen die an Nummer 25 gesetzte Chinesin Peng Shuai gesagt, der auch eine Bestmarke war. Damit stieg sie zur jüngsten Erstrundengewinnerin der Australian Open seit 1996 auf, als die Schweizerin Martina Hingis mit ebenfalls 15 reüssierte (und dann das Viertelfinale erreichte). Kostjuk bricht ständig Altersrekorde. Am Mittwoch folgte der nächste.

Die 15-Jährige aus Kiew, die aus einer, wie man sagt, Tennisfamilie stammt, in Zagreb lebt und trainiert, ist jetzt die Jüngste, die bei einem Grand-Slam-Turnier die dritte Runde erreicht hat, seit dies der Kroatin Mirjana Lucic-Baroni 1997 bei den US Open gelang. Vor den Australian Open war Kostjuk, die 2017 mit 14 den Juniorinnen-Titel in Melbourne gewonnen hatte, die Nummer 521 in der Weltrangliste. 186 Euro hat sie in der vergangenen Saison eingespielt. Für die dritte Runde kassiert sie 92 500 Euro. Sie steigt mindestens auf den 243. Platz der Weltrangliste auf und könnte weiter vorrücken, falls sie am Freitag gegen eine besondere Gegnerin gewinnen sollte. Elina Svitolina ist ebenfalls aus der Ukraine und: Nummer drei der Welt.

Für Ausnahmetalente in extrem jungen Jahren wurde das schreckliche Wort Wunderkind erfunden. Die erste, die an den dadurch ausgelösten Erwartungen scheiterte, war die Amerikanerin Andrea Jaeger, auch Hingis galt als eines und hat früh ihre Karriere beendet, ehe sie später zurückkehrte und erfolgreich Doppel sowie Mixed spielte. "Ich höre oft, dass ich Talent habe, aber damit allein spielt man nicht gut", sagt Kostjuk, die seit vergangenem Jahr von einem der cleversten Manager betreut wird, Ivan Ljubicic. Der Kroate, der auch als Trainer von Roger Federer in Melbourne ist, war als Profi nicht mit Talent gesegnet, spielte aber so schlau seine Stärken, seinen Aufschlag und seine Volleys, aus, dass er doch eine prächtige Laufbahn hatte. Es ist auffallend, wie er mit Kostjuk umgeht: Er lässt sie ihre jugendliche Energie ausleben und traut ihr Selbstständigkeit zu. Gestandene Profis kommen oft mit zwei, drei Managern und Begleitern zur Pressekonferenz. Kostjuk kam alleine. Und redete, wie 15-Jährige eben reden.

Als Kind wollte sie Novak Djokovic heiraten

Einmal erklärte sie, dass sie bei den Juniorinnen nicht mehr antreten werde, dass sie nicht mehr zur Schule geht, sondern zu Hause lernt und zweimal im Jahr Prüfungen absolviert. Sie werde zwölf Profiturniere spielen können. Um junge Spielerinnen zu schützen, wurden Altersgrenzen eingeführt. Zehnmal dürfen 15-Jährige bei Profiturnieren antreten; weil Kostjuk in der Juniorinnen-Rangliste in den Top 5 war, erhält sie zwei weitere Chancen. Dann wieder giggelte sie plötzlich, verdrehte die Augen. Und dann verriet sie, sie habe vor dem Match schlecht gefrühstückt, weil sie ständig Nachrichten auf dem Handy checkte. Und dass ihre Mama sie ermahnte. Einmal sagte sie: "Ich schwöre." Das hat man im Hauptinterviewraum, in dem etwa Federer stets auftritt, noch nie gehört.

Erfrischend ist ihre Art in jedem Fall, viele Geschichten von ihr brechen jetzt über die Tenniswelt herein. Etwa die, dass sie als Kind Novak Djokovic heiraten wollte. Ihre Eltern, Vater Oleg, der mal ein Jugendturnier in Kiew als Direktor verantwortete, und Mutter Talina, die die Nummer 391 der Welt war, liegen altersmäßig 18 Jahre auseinander. Bei Kostjuk und Djokovic sind es 15, da dachte sie, als 13-Jährige damals: "Das ist okay." Mit vier, fünf spielte sie so viel Tennis, um öfter bei der Mutter zu sein, die als Tennistrainerin arbeitete. Ihre Emotionen sind bis heute ein Thema. Früher wollte sie nach Fehlschlägen gar mit Tennis aufhören. Jetzt, vor den Australian Open, verlor sie früh bei einem drittklassigen Profi-Turnier. "Nach dem Match war ich so sauer, ich wollte nicht mehr nach Australien." Sie fuhr doch, durfte als Juniorinnen-Champion von 2017 in der Qualifikation antreten und biss sich dreimal in drei Sätzen durch.

Das Match gegen Svitolina ist in Melbourne ihr sechstes also, gegen die 23-Jährige wird sie wieder ihre Stärken einsetzen. "Sie ist eine Kämpferin, sie bewegt sich gut, sie kann eine absolute Topspielerin werden", sagt Patrick Mouratoglou, der Trainer der 23-maligen Grand-Slam-Siegerin Serena Williams, die in Melbourne fehlt. Der Franzose ist als Fernsehexperte da. Eine von Kostjuks Schwächen, altersbedingt sicher noch, drückte Svitolina so aus: "Sie hat nichts zu verlieren, sie wird sich auf alles stürzen. Ein bisschen wie ein kopfloses Huhn." Ein spielerisch gefährliches Huhn freilich, meinte sie.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: