Australian Open:"Alles Schlechte ist heute okay geworden"

Australian Open: Am Boden, aber vor Freude: Mirjana Lucic-Baroni bei den Australian Open.

Am Boden, aber vor Freude: Mirjana Lucic-Baroni bei den Australian Open.

(Foto: AP)
  • Die Tennisspielerin Mirjana Lucic-Baroni hat Furchtbares erlebt, sie litt unter ihrem Vater, sportlich war sie am Boden.
  • Nun schreibt sie die schönste Geschichte der Australian Open: Sie zieht mit 34 Jahren ins Halbfinale gegen Serena Williams ein.
  • Hier geht es zur den aktuellen Ergebnissen der Australian Open.

Von Gerald Kleffmann, Melbourne

Sie sank auf die Knie, kauerte sich zusammen, so harrte Mirjana Lucic-Baroni aus, 30 Sekunden, eine Minute. Um sie herum steigerte sich mit jedem Atemzug der Applaus, jeder konnte ja sehen, wie dieser Erfolg der Tennisspielerin naheging. Und das ging wiederum allen, die diese Szene miterleben durften, nahe. Als sich Lucic-Baroni wieder aus ihrer in sich kauernden Position löste und sich aufrichtete, hatte sie Tränen in den Augen. Später, bei der Pressekonferenz, sollte sie wieder feuchte Augen bekommen. "Alles Schlechte, was passiert ist, ist durch das hier heute okay geworden", sprach sie.

Und Mirjana Lucic-Baroni hat viel Schlechtes erlebt. Furchtbares. Eine seelische Hölle.

Jetzt steht sie 18 Jahre nach ihrem Grand-Slam-Halbfinale 1999 bei den US Open wieder in der Runde der letzten vier, diesmal bei den Australian Open in Melbourne. Sie rang die favorisierte Tschechin Karolina Pliskova mit 6:4, 3:6, 6:4 nieder. "Ich bin im Schock gerade", sagte sie. In ihrem Gesicht wechselten sich Freude, Fassungslosigkeit und Erlösung ab.

Jeder kennt die Geschichte von Mirjana Lucic-Baroni

Das Internet quoll sofort über vor Glückwünschen, Tennis ist ein Einzelsport, aber jeder kennt ihre Geschichte, und diese berührt alle. Sehr viele Kollegen übermittelten ihre Freude, jeder gönnt es ihr. 34 Jahre ist Lucic-Baroni alt. Als die Kroatin, in Dortmund geboren, Ende des vergangenen Jahrtausends mit 15 die Tennisbühne betrat, galt sie als eines der vielversprechendsten Talente. 1998 gewann sie als Jüngste jemals einen Grand-Slam-Titel, mit der Schweizerin Martina Hingis siegte sie im Doppel bei den Australian Open. 1999, es war das Jahr, in dem Steffi Graf ihre Karriere beendete, erreichte sie das Halbfinale in Wimbledon.

Das alles wirkte wie eine Stabübergabe. Die Zukunft schien ihr zu gehören. Heute ist bekannt, dass ihr Vater körperliche und psychische Gewalt angewendet hat, die grausam gewesen sein muss. Eines Tages wolle sie explizit alles darstellen, sagte Lucic-Baroni nun. Aber noch nicht jetzt.

Ihr Weg ist aber in groben Zügen auch so verbürgt, ihre Mutter floh mit allen fünf Kindern in die USA, beantragte Asyl. Was mit Lucics Tennislaufbahn passierte, lässt sich allein an ihrer Grand-Slam-Bilanz ablesen. Von 2003 bis zu den French Open 2010 hat sie nicht einmal teilgenommen. Sie war abgetaucht, weg, wie ausgelöscht, wenngleich sie natürlich im Hintergrund Tennis spielte. Aber es fehlten die Mittel, um die teure Reiserei zu finanzieren, es wurde auch berichtet, der Vater sei an ihr Preisgeld gekommen und hätte große Teile davon abgezweigt. Sie war seit diesen Erlebnissen jedenfalls nicht mehr in der Lage, wieder auf höchstem Niveau konkurrenzfähig zu sein.

"Viele Male war ich an einem Punkt, an dem ich viel geweint und gelitten habe", das ließ sie jetzt erkennen, aber eines erstaunt sie selbst im Rückblick: "Es kann nicht sein, dass ich mit 34 immer noch spiele." Ja, das sei verrückt und unglaublich. "Gott ist gut", sagte sie auch noch. Die Zuschauer in der Rod Laver Arena klatschten voller Empathie.

Im Halbfinale gegen Serena Williams

In Florida, ihrem neuen Zuhause, lernte sie den Restaurant-Besitzer Daniele Baroni kennen, sie heirateten, langsam tastete sie sich zurück auf die größeren Bühnen. Bei kleineren ITF-Turnieren hatte sie immer wieder mal teilgenommen. Ihre Fähigkeiten blitzten gelegentlich auf, mit Siegen gegen Top-30-Spielerinnen, aber erst 2014, mit 32, stand sie im Achtelfinale der US Open. Das war wie der Wendepunkt. Sie kletterte endlich wieder in Top die 100, 79. war Lucic-Baroni vor diesen Australian Open; sie macht schon jetzt mindestens den Sprung auf Rang 29.

Das Unglaubliche auch: Ihr allererstes Grand-Slam-Match gewann sie 1998 in der ersten Runde gegen die Australierin Rennae Stubbs. Und genau der fiel sie jetzt um den Hals in Melbourne, als sie Pliskova besiegt hatte. Stubbs führt in Melbourne bei den Frauen-Matches diese kurzen Interviews nach den Topspielen. Fast immer sind sie nett und oft lustig. Das Gespräch mit Lucic-Baroni hatte aufgrund aller Hintergründe eine ganz andere, sehr ernste Dimension.

"Schau dir meine Beine an"

Im Halbfinale trifft Lucic-Baroni am Donnerstag auf Serena Williams, die gegen die Britin Johanna Konta mit 6:2, 6:3 siegte. Das zweite Halbfinale bestreiten Venus Williams und Coco Vandeweghe (alle aus den USA). Lucic-Baroni wird, eine kleine deutsche Note, von Marin Bradaric, 31, trainiert, dem Schwiegersohn des früheren Davis-Cup-Spielers Markus Zoecke, der in Melbourne für Eurosport kommentiert. Ob sie sich zutraue, jetzt vielleicht gar das Turnier zu gewinnen, wurde sie noch von Stubbs gefragt. "Schau dir meine Beine an", sagte da Lucic-Baroni und verwies auf ihre Bandagen an Oberschenkel und Wade. Sie lachte schallend.

Sie ist heilfroh, dass sie endlich diese Art von Problemen hat. "Ich möchte als eine wunderbare Kämpferin bekannt sein, als eine Person, die alles überstand, alle Widerstände." Ihre Botschaft von diesen Australian Open wird als eine der eindringlichsten ihren Platz in der Tennisgeschichte finden: "Pfeif auf alles und pfeif auf jeden, der sagt, du schaffst es nicht - mach es einfach."

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