Atlético Madrid in der Champions League:"Saúl, von welchem Planeten bist du gekommen?"

  • Der junge Saúl Ñíguez Esclápez lässt die Bayern aussehen wie die Betriebssportgruppe der Rentenkasse.
  • Und schon träumen sie bei Atlético Madrid.

Von Jonas Beckenkamp

Einfach mal drauf los rennen, vorbei an allen, mitten rein ins pralle Leben - das haben im Fußball schon viele versucht. Der große Maradona umkurvte ganz England, der ebenso riesige Messi nahm es mit elf Menschen aus Getafe auf und natürlich hatte auch der nicht ganz so große Alexander Baumjohann seinen Auftritt, als er 2008 gegen Bremen einen 70-Meter-Sprint mit einem Tor veredelte. Der Sololauf ist eine besondere Kunstform, er vereint Können, Körperbeherrschung, Schnelligkeit und Cojones, die spanische, leicht vulgäre Umschreibung für Chuzpe.

Der Sololauf, das ist also eher nichts für Grobfußballer wie Christian Wörns, aber umso mehr etwas für einen wie Saúl Ñíguez Esclápez. Wer so heißt, kann eigentlich nur ein begnadeter Schnickser und Trickser sein, ein Draufgänger mit allerbesten Haltungsnoten, einer mit Pfiff noch dazu. Nach diesem, wie er selbst schwärmte, "Tor seines Lebens" beim 1:0 gegen die Bayern, lässt sich nun bilanzieren: Dieser Saúl hat's drauf, ¡madre mía!. Saúl dribbelte sie alle wie auf einem Bierdeckel aus: Erst Thiago (eigentlich selbst ein Schnixer), dann Bernat, dann Xabi Alonso (er grätscht wohl noch bis zu diesem Zeitpunkt ins Leere), dann Alaba und schließlich noch Vidal. Alles Supertypen, alle stehengelassen.

Es war eine Aktion, die Großteile des FC Bayern aussehen ließ, wie die Betriebssportgruppe der Rentenkasse; ein Tor aus einer fernen Galaxie. Ein Gemälde von Dribbling, ein Wahnsinn in fünf Haken von diesem unglaublichen Saúl. Oder wie die Madrider Zeitung Marca es in Anlehnung an die TV-Kommentatoren der Soli von Maradona und Messi beschrieb: "Saúl, von welchem Planeten bist du gekommen?" Die Heldentat des 21-Jährigen ist natürlich auch tags darauf noch das Gesprächsthema in Spanien, denn sie war der Höhepunkt dieses besonderen Abends für Atlético Madrid.

Ohne Saúl kein Sieg für die Weißroten aus dem Madrider Süden, diese Kampfmaschine aus elf Fußballern, so lautet die allgemeine Interpretation. Doch das Tor hatte dann so gar nichts von einer Kampfmaschine: "Eines der besten Tore des Jahres" attestierten reihenweise spanische Zeitungen dem feinfüßigen Mittelfeldmann, der sich immer mehr zur Figur für die besonderen Momente bei Atlético entwickelt. Bereits im Viertelfinale gegen Barcelona hatte er seinem Kollegen Antoine Griezmann eine Außenristflanke auf den Kopf gepinselt, nun erledigte er die Bayern mit seinem dritten Treffer in der laufenden Champions-League-Saison.

Sein Wunderlauf nahm in der 11. Minute einen erstaunlichen Anfang: Im Mittelkreis, dort wo die Balleroberer der Bayern ein Nickerchen hielten. "Ich bin mit dem Ball los und hab' gleich gesehen, dass ich ein paar Gegner hinter mir lassen konnte", sagte der U21-Nationalspieler, "und als ich es dann bis in den Sechzehner schaffte, legte ich ihn mir auf meinen linken Fuß, um den Schuss besser zu platzieren."

Alles geplant und kein Zufall also, das ist vielleicht die größte Frechheit dieses Streichs. Er habe bei all dem dichten Verkehr eine Lücke gesehen, erklärte Saúl umringt von zahlreichen Mikrofonen - er wollte die Kugel genau da hinten am Pfosten an Manuel Neuer vorbeischlenzen.

Simeone schwärmt, sein Handy purzelt

Für sein Team bedeutete dieses Kunststück die frühe Führung, es war der Moment, in dem alle Pläne von Trainer Diego Simeone aufgingen: Die Bayern kommen lassen, viel rackern und gifteln, aber dann in dieser einen Szene den entscheidenden Punch setzen. Atlético lieferte genau das ab, was zu erwarten war. Tonnenweise Leidenschaft, Geschick, taktische Reife und gnadenlose Aufopferung gegen nach der Pause überlegene Münchner.

"Wir waren ganz nah an unserer Bestform", fand Simeone, dem vor lauter Gezeter an der Seitenlinie irgendwann sein Mobiltelefon aus dem Revers purzelte. "Vor allem in der ersten Hälfte haben wir es so gut gemacht, wie schon in der letzten Runde gegen den FC Barcelona." Dort machte es sein Team: Fantastisch.

Nur kurz ließ der Argentinier sich zu solchen Schwärmereien hinreißen, dann begab er sich sofort wieder in die Rolle des Underdogs, seine Paraderolle: "Das war nur ein Teil, aber jetzt fahren wir mit allen Möglichkeiten nach München." Ähnlich sieht das auch die Öffentlichkeit in Spanien, wo der Respekt vor den Guardiola-Bayern groß ist, aber nach drei Auswärtsniederlagen in aufeinanderfolgenden Halbfinals gegen spanische Topklubs doch ein wenig angekratzt.

Möglich gemacht haben den Triumph Atléticos aber nicht nur nachlässige Deutsche, sondern laut der Zeitung As die "Unermüdlichen des Cholo", also all die folgsamen, willensstarken Fußballer, die ihrem Chef bis auf den Mond folgen würden. In einem Kommentar folgerte das Blatt: "Atlético hat den Bayern ein Schnippchen geschlagen", die Madrilenen hätten im "Clash der Stile" keineswegs enttäuscht und ihr Ding durchgezogen - auch das ist eine Wahrheit dieser "gewonnenen Schlacht" (Marca).

Gekrönt wurde alles natürlich von jenem "Golazo", dem Tor des jungen Saúl, dem Goldbubi von der Costa del Sol. Dass der einst in der Jugend von Real Madrid reifte und heute zu 40 Prozent dem FC Barcelona gehört (die Katalanen besitzen eine Kaufoption), stört bei Atlético in diesen Tagen niemand. Für den Klub zählt derzeit nur eins: Hauptsache, Saúl entpuppt sich nicht doch als Außerirdischer, dessen Zeit auf der Erde noch vor dem Rückspiel abläuft.

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