Argentinien:Kampfstoff aus der Giftküche

Eine Pfefferspray-Attacke ist neuer Tiefpunkt in der Rivalität zwischen Boca Juniors und River Plate.

Von Peter Burghardt

Ein Jammer ist das mit Boca und Argentiniens Fußball, dabei sind beide grundsätzlich genauso liebenswert wie das Land. Den Club Atlético Boca Juniors aus dem alten Hafenviertel La Boca, der Mund, von Buenos Aires muss man schon deshalb mögen, weil dort Diego Maradona und Carlitos Tevez gespielt haben, Maradona sitzt noch heute gerne in seiner Ehrenloge. Der gelbblaue Verein hat alles gewonnen, was jenseits des Atlantiks zu gewinnen ist, dreimal auch den Weltpokal. Seine Heimat trägt den Kosenamen "La Bombonera", die Pralinenschachtel, wird allerdings schnell zur Schlachtschüssel. Es gibt nicht viele Stadien, die dermaßen beben. Nun ächzt diese zunehmend wacklige Festung und Touristenattraktion unter einem Drama, das selbst die skurrile Nation am Río de la Plata erschüttert.

Es geht um Pfefferspray.

Vier Heimspiele Sperre und 200 000 Dollar Geldstrafe - Boca Juniors kommt gut davon

Eigentlich ging es in der vergangenen Woche um die irrwitzigste Sportveranstaltung des Kontinents, den "Superclásico". Dieser Superklassiker ist das Duell von Boca Juniors und River Plate, deren Rivalität schnell zur Todfeindschaft wird. Im Rahmen der Begegnung der beiden berühmtesten Vereine Argentiniens wurden schon mehrere Anhänger umgebracht, in einer der gewalttätigsten Fußballszenen sind immer wieder Tote zu beklagen. Ganz so weit kam es diesmal zwar nicht, als sich Boca und River am Freitagabend im Achtelfinale der Copa Libertadores gegenüberstanden, im dritten Vergleich binnen weniger Tage. Doch die Affäre ist trotzdem der neue Tiefpunkt eines Skandalbetriebs.

Der Wahnsinn brach aus, als die Profis von River Plate beim Stand von 0:0 zur zweiten Halbzeit auflaufen wollten, das Hinspiel hatten sie 1:0 gewonnen. In der aufblasbaren Röhre, die das Feld mit der Kabine verbindet, schoss ihnen eine beißende Substanz ins Gesicht - mehrere Spieler taumelten mit tränenden Augen und Schwindel zu Boden, manche fürchteten um ihr Leben. Auf dem Rasen herrschte anschließend ein heilloses Durcheinander, ehe sich der Schiedsrichter Darío Herrera nach mehr als einer Stunde entschied, die Partie abzubrechen; nach einer weiteren Stunde wurde er mit Polizeischutz evakuiert. Außerdem sah man unter anderem eine surreale Drohne über den Platz mit den verwirrten und verletzten Männern fliegen, daran ein gespensterhafter Fetzen Stoff mit dem roten Buchstaben B.

Bei diesem B handelte es sich um die vor allem in La Boca beliebte Erinnerung an den zwischenzeitlichen Abstieg des Erzrivalen River vor ein paar Jahren in "La B", die zweite Liga. Normalerweise wäre der Scherz harmlos gewesen, spöttische Routine, wobei zu fragen wäre, wie ein Fluggerät mit Propeller in einen gewaltbereiten Fanblock geraten kann. Bringt bald jemand eine Mittelstreckenrakete mit? Noch unglaublicher war jedoch, dass da tatsächlich eine Dose mit Kampfstoff aus der Giftküche eingeschleppt und ein Match vor 50 000 Zeugen auf den Rängen und Millionen vor den Fernsehern gesprengt wurde.

Der mutmaßliche Haupttäter ging inzwischen durch Filmaufnahmen ins Netz, es ist ein gewisser Adrián Napolitano alias "El Panadero", der Bäcker. Dieser Boca-Groupie war zuvor nur Insidern ein Begriff, führende Hooligans sind in Argentinien ansonsten so bekannt wie Fußballstars. Die Mafiosi kontrollieren den Handel mit Trikots, Tickets, Rauschgift und Waffen. Sie bedrohen, erpressen und lassen sich gerne auch von Politikern einspannen. Vereinzelt machen manche von ihnen im Gefängnis Station - in einer Zelle saßen unter anderem frühere Anführer von La 12, der sängerisch begabten und ansonsten gemeingefährlichen Hardcore-Gemeinde von Boca Juniors. Deren Lager bekämpfen sich bis aufs Messer. Jetzt hat ein zweitrangiger Delinquent die Institutionen Boca und Bombonera ins Wanken gebracht.

Nur die Hausherren mit den Nationalspielern Agustín Orión und Fernando Gago fanden das nicht so schlimm. Sie winkten nach dem Abbruch ihrem Volk, während sich die vergifteten Kollegen von River Plate krümmten. Der Boca-Präsident Daniel Angelici wittert hilflos bis zynisch eine politische Verschwörung - einer seiner Vorgänger ist der heutige Bürgermeister von Buenos Aires, Mauricio Macri, der Argentiniens Präsident werden will, obwohl er nicht mal die Tribünen der Bombonera unter Kontrolle gebracht hatte. Der mehrheitliche Rest der Branche dagegen ist entsetzt. "Ein paar Idioten lassen alles verfaulen", klagt der River-Trainer Marcelo Gallardo, "sie haben das beste Spektakel der Welt lächerlich gemacht." Die argentinische Regierung droht mal wieder, den Fußballverband Afa zu übernehmen; diese Chaostruppe ist das Erbe des verstorbenen Patrons und vormaligen Fifa-Vize Julio Grondona. Zum Beispiel kam diese Afa auf Grondonas letzten Wunsch hin auf die Idee, in dieser Saison mit 30 Erstligisten um den Titel spielen zu lassen, Weltrekord. Aber was würde der südamerikanische Verband Conmebol wegen des Pfeffersprays tun?

Es hieß, Boca könnte jahrelang gesperrt und die Bombonera fürs erste geschlossen werden. Doch die wohl korrupteste Fifa-Filiale ließ Gnade vor Recht ergehen. Die Funktionäre werteten das Libertadores-Spiel erwartungsgemäß für River, das im Viertelfinale auf Cruzeiro aus Belo Horizonte in Brasilien trifft. Ansonsten muss Boca 200 000 Dollar Strafe zahlen und vier internationale Heimspiele woanders austragen. Man hört, angesichts der sanften Reaktion habe sogar Fifa-Chef Sepp Blatter getobt.

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