Argentinien im Halbfinale:Der Zuschauer trifft

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Im dramatischen Viertelfinale gegen Kolumbien vergibt Lionel Messi reihenweise Chancen. Im Elfmeterschießen gelingt ausgerechnet Carlos Tevez das entscheidende Tor. Dabei sollte er gar nicht schießen.

Von Javier Cáceres, Viña del Mar

Der eigentliche Held des Spiels war hinterher kaum mehr zu trösten. David Ospina, Torhüter der kolumbianischen Nationalmannschaft, schleppte sich mehr zum so genannten Field-Interview, als dass er ging; das Kinn ruhte, wie von einer zentnerschweren Last der Enttäuschung gezogen, auf dem Brustkorb.

Mochte der Trainer der Argentinier, Gerardo "Tata" Martino, im stickigen Presseraum des Estadio Sausalito von Viña del Mar auch noch so nachdrücklich behaupten, dass "Ospina der Mann der Partie" war - am Torwart selbst nagte das nicht zu bewältigende Gefühl, sich für solches Lob nichts kaufen zu können. Kolumbien war im Viertelfinale der Copa América ausgeschieden - nicht unverdient, einerseits, andererseits aber auch auf eine der denkbar bittersten Weisen: mit 4:5 nach Elfmeterschießen, die reguläre Spielzeit war mit einem 0:0 zu Ende gegangen. Argentinien trifft nun im Halbfinale am Dienstag im südchilenischen Concepción auf Paraguay, das überraschend Brasilien in der Nacht auf Sonntag aus dem Turnier warf - ebenfalls im Elfmeterschießen. Die andere Halbfinalpaarung: Gastgeber Chile spielt am Montag im Nationalstadion von Santiago gegen die Nachbarn aus Peru. Mit einigem Recht behaupte Argentiniens Coach Martino, dass es gegen die Kolumbianer eigentlich nie zu dem nervenzehrenden Elfmeterschießen hätte kommen dürfen. So überlegen, wie die Argentinier agierten, hätten die Vizeweltmeister schon nach 90 Minuten (bei der Copa América werden in den K.-o.-Runden übrigens keine Verlängerungen ausgespielt) siegen müssen.

Messi fällt das Toreschießen schwer: "Es ist schrecklich"

"Wir hatten das Spiel völlig im Griff, ich allein hatte zwei Riesenchancen", sagte auch der in Chile überraschend gesprächige Kapitän Lionel Messi vom Champions-League-Sieger FC Barcelona. Er selbst sank vor allem einmal voller Ohnmacht dahin: als Ospina mit zwei diabolisch guten Paraden in der ersten Halbzeit eine argentinische Doppelchance vereitelte. Erst wehrte er einen Schuss von Mittelstürmer Sergio Agüero (mit dem Fuß) ab, den Abpraller setzte Messi per Kopf aufs Tor. Doch Ospina bekam irgendwie die Hand noch an den Ball und wehrte diesen zur Ecke ab (26. Minute). Derartige Szenen häuften sich. Während die Kolumbianer rund um Real Madrids Superstar James Rodríguez neuerlich unter dem Niveau blieben, das sie bei der WM 2014 in Brasilien gezeigt hatten, und in 90 nur einen Schuss aufs Tor abgaben (ein Kopfball von Verteidiger Zapata nach einer Ecke), erspielte sich Argentinien Chance um Chance. Die beste aus der zweiten Halbzeit, einen Volleyschuss von Nicolás Otamendi (FC Valencia) lenkte Ospina magisch an den Pfosten.

Stellt sich seiner Vergangenheit am Punkt: Carlos Tevez. (Foto: Mario Ruiz/dpa)

"Das war unser bisher bestes Spiel in diesem Turnier", sagte Messi, "schrecklich nur, dass ich hier solche Schwierigkeiten habe, das Tor zu treffen", fügte er hinzu. Derlei pflegt sich auch in Südamerika zu rächen. Eigentlich. Und genau das ließ, zusammen mit der empfindlich kühlen Feuchtigkeit, die vom nahen Pazifik hinüberwehte, auch die Furcht ins kokette Estadio Sausalito von Viña del Mar ziehen. "Wir hatten einen Riesenschiss, hier rauszufliegen", gestand Messi.

"Dieser Elfmeterstoß wird die Erinnerung an 2011 nicht beseitigen"

Zumal die Argentinier noch immer nicht die Erinnerungen an die Copa América von 2011 aus den Kleidern haben schütteln können. Damals waren die Argentinier als Turniergastgeber im Elfmeterschießen am späteren Sieger Uruguay gescheitert, den letzten Elfer in jenem denkwürdigen Viertfinale verschoss Stürmer Carlos Tevez. "Wir haben deshalb alles getan, damit Carlos diesmal nicht antreten musste. Wir wollten vermeiden, dass er schießt", räumte Coach Gerardo Martino ein. "Ich habe ihn nicht in die Top Fünf gestellt, weil er in der letzten Copa América verschossen hat. Doch am Ende haben wir so viele Elfmeter gebraucht, dass er schließlich kam." Dann also musste Tevez doch zum Elfmeterpunkt - als insgesamt 14. Schütze entschied er die Partie. Es folgte der handelsübliche Jubel, auf dem Rasen, auf den Rängen. "Man hat eine Menge Dinge in seinem Kopf", gestand Tevez, nach den Gefühlen beim entscheidenden Schuss gefragt. "Als der Ball dann ins Tor ging, dachte ich an meine Familie und an all diejenigen, die mich jeden Tag unterstützen". Und dennoch sagte Tevez auch: "Dieser Elfmeter wird die Erinnerung an 2011 nicht beseitigen."

Carlos Tevez schießt die Argentinische Auswahl ins Halbfinale und feiert mit seinem Torwart Sergio Romero. (Foto: Juan Barreto/AFP)

Er selbst geriet damals in der Nationalmannschaft ins Abseits. Allenthalben wurde gemunkelt, dass er sich mit Leo Messi nicht verstehe und von diesem letztlich ausgebootet worden wäre. Zudem bedienen sie gewissermaßen unterschiedliche Publikumssegmente. Hier die Fans, die Messi wegen dessen Leistungen beim FC Barcelona in direkter Nachfolge von Diego Maradona sehen. Dort die Tevez-Jünger, die den "Apachen" (so wird er genannt, weil er in einem Slum namens Fuerte Apache in Buenos Aires aufwuchs) als "Spieler des Volkes" verehren.

Reservist Tevez sagt, er genieße das Zuschauen

Nun lagen sich Messi und Tevez, die angeblichen Antagonisten, besonders innig in den Armen. Schon zuvor hatte Tevez in einem Interview mit der offiziellen Internet-Seite der Copa América versichert, es sei gänzlich unmöglich, sich mit Messi nicht zu verstehen. In Chile ist er bislang zu einem Reservistendasein verurteilt gewesen. Doch diese Rolle nimmt er mit ungeahnter Demut hin. "Es ist fast unmöglich, in diese Mannschaft zu rutschen", sagte er nach dem Spiel gegen Kolumbien. "Ich genieße es, zuzuschauen."

Demnächst wird Tevez übrigens wieder bei seinem Stammklub Boca Juniors in Buenos Aires agieren. In der Halbzeitpause gab Boca per Twitter bekannt, dass der Deal mit dem Champions-League-Finalisten Juventus Turin nun endgültig unter Dach und Fach sei: "Tevez kehrt nach Hause zurück. Willkommen, Carlitos." Fast gleichzeitig deutete ein alter Bekannter der Münchner Bayern, Innenverteidiger Martin Demichelis (Manchester City), seinen Rücktritt vom Rücktritt an. Noch vor Beginn der Copa hatte Demichelis versichert, seine Nationalmannschaftskarriere beenden zu wollen. "Wieder dabei gewesen zu sein hat mir die Lust gemacht, weiterzumachen", sagte Demichelis - obwohl er bei der Copa América bislang nur zweite Wahl war. "Ich kann nur hoffen, dass es das noch nicht für mich war". Vorerst geht es auch für ihn am Dienstag weiter.

© SZ vom 28.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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