Angeschossene Boxerin Rola El-Halabi:Comeback mit Narben

Profiboxerin El-Halabis vor Comeback

Boxerin Rola El-Halabi: Trotz Narben Rückker in den Ring

(Foto: dpa)

Die Muskeln in der Hand sind zerstört, die Sehnen verklebt: Für Rola El-Halabi war Boxen ihr Leben, bis ihr Stiefvater sie mit vier Kugeln niederschoss. Von ihrem Sport hatte sie sich eigentlich schon verabschiedet, nun will El-Halabi doch wieder in den Ring steigen. Trotz vieler Widerstände.

Von Benedikt Warmbrunn

Das Tape ist um das Handgelenk gewickelt, um den Daumen, wieder um das Handgelenk, zwischen allen Fingern durch, immer wieder zurück zum Handgelenk, über den Handrücken, am Ende mehrere Schichten über die Handknöchel. Ein Tape soll schützen. Ein Tape verdeckt aber auch, wie wenig es eigentlich schützt.

Rola El-Halabi steht an einem Boxring in Neu-Ulm, sie streift Tape über die rechte Hand. Zwischen Zeigefinger und Mittelfinger hindurch, wo die Nerven kaputt sind. Über die bleistiftdicke Narbe auf dem Handrücken. Die Narbe ist jetzt nicht mehr zu sehen, auch darum steht Rola El-Halabi jeden Tag hier, zwischen den Sandsäcken und Medizinbällen, vor der Wand, auf der steht: "Lerne zu leiden ohne zu klagen." Sie steht hier, weil sie wieder boxen will, weil sie nicht will, dass die Narbe sie definiert. Weil sie sich endgültig beweisen will, dass sie es ist, die ihr Leben kontrolliert. Nur sie. Sie kämpft wieder. Kämpft weiter.

Der Boxsport wird häufig als eine Parabel auf das Leben bezeichnet, dieser Sport, in dem die Athleten fast nackt sind, reduziert auf ihren Überlebensinstinkt. Dieser Sport, in dem so klar in Sieger und Verlierer unterteilt wird, in Starke und Schwache, mit dem Knockout als Demütigung vor den Augen aller. Dieser Sport, in dem so häufig die Geschichte von Fall und Aufstieg erzählt wird.

Für Rola El-Halabi, 27, war das Boxen nie eine Parabel auf das Leben. Es war das einzige Leben, das sie kannte. Bis sie stürzte, zu Boden geschubst von dem Mann, der sie begleitet, dann kontrolliert, dann bedroht, dann angeschossen hatte. Von dem Mann, den sie Papa nannte.

Der 1. April 2011, Berlin-Karlshorst. Es sind zehn Minuten bis zu El-Halabis WM-Kampf im Leichtgewicht gegen die Bosnierin Irma Balijagic-Alder. Die Boxerin sitzt mit ihrem Team in der Kabine, sie hört Geräusche aus dem Gang, die Tür wird aufgerissen. Auf dem Boden liegt der Bodyguard. In der Tür steht Hicham El-Halabi, ihr Stiefvater, mit einer Pistole in der Hand. Er schickt alle raus, außer Rola El-Halabi. Schießt ihr in die rechte Hand, schießt ihr in den linken Fuß. Rammt einen Stuhl unter die Türklinke, wechselt das Magazin, lädt nach. Schießt ihr in das rechte Knie, schießt ihr in den linken Fuß. Rola El-Halabi wusste, dass er sie zum Krüppel schießen wollte, dass er ihr alles nehmen wollte. Weil sie ihm alles genommen hatte, das war seine Sicht auf die Monate zuvor.

Als Rola El-Halabi 13 Jahre alt war, nahm sie ihr Stiefvater, ein Kickboxer, mit in das Boxgym in Neu-Ulm. Die Jugendliche war begeistert. Im Boxring war sie für sich selbst verantwortlich, es gefiel ihr, dass sie spürte, wenn sie einen Fehler gemacht hatte. Außerhalb des Sports bestimmte ihr Stiefvater alles, sie konnte keine Fehler machen. Mit 20 Jahren durfte sie sich erstmals die Fingernägel lackieren. Mit 25 durfte sie erstmals alleine in die Disco. Sie durfte so wenig und musste so viel. "Je mehr ich trainiert habe, je mehr ich gekämpft habe, umso mehr Momente hatte ich, in denen ich frei über mein Leben entscheiden konnte", sagt El-Halabi.

Nach dem Abitur wurde sie Profiboxerin, im dritten Kampf gewann sie den EM-Titel, nach dem neunten war sie Weltmeisterin von zwei Verbänden. Sie hatte kein Management, keine großen Sponsoren. Sie hatte ihren Trainer, und sie hatte ihren Stiefvater. Sie und er.

Dann verliebte sie sich erstmals, mit Mitte 20. Erkannte, dass da ein Leben neben dem Boxen war. Dass das auch ein schönes Leben war. Ihr Stiefvater war für die totale Konzentration auf die Karriere und gegen die Beziehung, es kam zum Streit, er zog aus. Er beobachtete sie, drohte an, sie "über den Haufen zu schießen". Irgendwann hatte Rola El-Halabi den Mut und die Kraft, ihrem Stiefvater zu sagen, dass sie nicht mehr mit ihm arbeiten wolle. Für ihn war das so: Seine Stieftochter, das Mädchen, das er adoptiert hatte, hatte ihm die Familie genommen, und nun auch die Karriere, die er genauso als seine ansah.

Ohne Geschichte keine Karriere

Der 1. April war der erste Kampf, zu dem El-Halabi ohne ihren Stiefvater antreten wollte. Als sie dann vor ihm lag, angeschossen, sagte er: "Schau, wozu du mich getrieben hast!" Im November 2011 wurde er zu sechs Jahren Haft verurteilt. Rola El-Halabi nennt ihn immer noch Papa, von ihm wissen will sie nichts mehr.

Das Ende der Karriere, das war das Ziel der vier Schüsse. El-Halabi wurde innerhalb von zwei Wochen neunmal operiert, Beckenknochen wurden in ihre rechte Hand eingesetzt, sie hat zwölf Narben. Nach der zweiten Operation hieß es, man müsse ihr Bein versteifen. Sie lernte wieder aufzustehen, sich hinzusetzen, zwei Schritte vor, zwei Schritte zurück. Nach einer Woche lief sie im Krankenhaus-Gang auf und ab. Die Karriere? War ihr erst einmal egal.

Sie lebte ein Jahr lang das Leben, das ihr so lange verwehrt wurde, das Leben neben dem Boxen. Zog zu Hause aus. Kaufte sich einen Rottweiler. Fuhr spontan weg. Ein Wochenende am Bodensee. Aß um ein Uhr nachts Pizza. Ging spät ins Bett. Schlief aus. Eröffnete mit ihrem Verlobten ein Café. Kellnerte. Erst in diesem Frühjahr merkte sie, dass ihr dieses Leben nicht reicht. Dass etwas fehlt. "Mein Traum war es, als Boxerin auf dem Höhepunkt aufzuhören", sagt Rola El-Halabi, "aber das war kein Höhepunkt. Ich möchte nicht als die angeschossene Boxerin in Erinnerung bleiben. Ich möchte selbst über mein Leben entscheiden."

Der Boxring in Neu-Ulm, Pratzentraining. Linke Gerade, rechte Gerade, Trainer Jürgen Grabosch lobt El-Halabis rechten Aufwärtshaken. Die rechte Hand ist ihre Schlaghand, mit ihr trifft sie kraftvoller, härter, schmerzhafter. Es gibt Boxer, die vertrauen nur auf die Kraft ihrer Schlaghand. El-Halabi nicht. Aber ohne Schlaghand ist auch sie keine Boxerin. Ein Jahr lang hat sie versucht, in einen Boxhandschuh zu schlüpfen, heimlich, vergeblich. Zwei Zentimeter an zerfetzter Sehne hatten die Ärzte entfernt, in den ersten Wochen hatte El-Halabi kein Gefühl in der Hand, monatelang konnte sie den Mittelfinger weder strecken noch krümmen. Die Sehnen sind verklebt, die Muskulatur ist komplett weg. Das Gefühl zwischen Zeigefinger und Mittelfinger wird immer fehlen, die Nerven sind zerstört. Wenn sie nun ihre Finger krümmt, fehlt etwa ein Zentimeter zum Handteller. Mit Tape reicht das für eine Faust, reicht das für die Rückkehr.

32 Monate lang hat El-Halabi nicht mehr gekämpft. In den vergangenen eineinhalb Jahren war sie die sogenannte "Weltmeisterin im Ruhestand", bei ihrer Rückkehr am 12. Januar in Ulm verteidigt sie ihren Titel nach Version der Women's International Boxing Association, im Leichtgewicht bis 61,235 Kilogramm. Ihre Gegnerin, Lucia Morelli, ist eine aggressive, offensive Boxerin, eine Schlägerin. El-Halabi dagegen boxt gerne im Rückwärtsgang, sie bleibt nur kurz stehen, ein, zwei Schläge, stets variabel, weicht aus. Für eine Boxerin hat sie eine ungewöhnlich hohe K.o.-Quote von 54,55 Prozent, sie hat all ihre elf Kämpfe gewonnen, sechs vorzeitig. Sie hatte schon immer alle Voraussetzungen für eine große Karriere. Eigentlich.

Rola El-Halabi hatte sich zu Beginn ihrer Karriere bei allen großen deutschen Boxteams beworben. Die Antwort war immer dieselbe. Wie toll sie boxen würde. Wie gut sie sich ausdrücke. Wie hübsch sie sei, wie weiblich. Dass sie alles mitbringe. Und dass das zu perfekt sei.

Boxen ist ein Sport, in dem das Geld entscheidet, und das Geld zahlen vor allem die Fernsehanstalten. Die Sender wollen, dass die Menschen einschalten, sie wollen nicht nur zwei gute Boxer sehen, sie wollen, dass sich da zwei Geschichten gegenüberstehen. Oder ein guter Boxer und ein Boxer, der eine gute Geschichte hat. Im Frauenboxen ist das mit der Geschichte noch wichtiger, Frauenboxen ist eine Nischensportart, Boxerinnen werden selbst von Boxern selten anerkannt. Wer als Boxerin bekannt werden will, braucht also eine sehr gute Geschichte. Regina Halmich: die Frau, die Stefan Raab verprügelte. Susi Kentikian: das Mädchen, das sich aus dem Asylantenheim gekämpft hatte. Ina Menzer: die eingebildete Diva, die einmal mit blutüberströmten Gesicht geboxt hatte.

Rola El-Halabi war eine sehr gute Boxerin, ohne Geschichte. Sie musste von ihrem Stiefvater angeschossen werden, damit die Journalisten auch zu ihr kommen. El-Halabi sagt: "Das macht mich nicht glücklich. Jetzt habe ich diese verdammte Geschichte, und natürlich ist es nicht schön, dass ich so Aufmerksamkeit bekommen habe. Aber ich sehe es als meine Aufgabe nicht zu heulen, sondern zu sagen: Hey, du kannst etwas ändern." Sie will ein Vorbild sein, sie, die Boxerin, die weitermacht. Ein Vorbild für all die, die auch Rückschläge erlitten haben.

El-Halabi sitzt auf einer Bank in dem Gym, neben dem Laufband, auf dem ihre Rückkehr begann. In einer Frühlingsnacht, eine Stunde vor Mitternacht. Sie kam alleine, hat sich auf das Laufband gestellt, die Umgebung wahrgenommen und dann vergessen. Noch heute gehen ihr jedes Mal beim Eintreten zwei, drei Minuten lang Bilder durch den Kopf. Aus den zwölf Jahren, die sie mit ihren Stiefvater in der Halle verbrachte. Von dem Abend in Berlin. Als sie anfing, tagsüber zu trainieren, war sie nie alleine in der Kabine, ließ die Tür offen. Sie hatte überlegt, sich am 12. Januar auf dem Gang aufzuwärmen. "Aber das könnte ich nicht verkraften, mich allem zu stellen - und dann dem Moment, dem ich mich am meisten stellen muss, zu entfliehen." Die psychologische Betreuung hatte sie nach wenigen Wochen abgebrochen. So viel reden, so wenig handeln. Der Kampf, sagt sie, sei auch "Selbsttherapie".

El-Halabi veranstaltet den Abend alleine, sie hat keinen übertragenden Fernsehsender, wenn die Halle nicht mit 7000 Zuschauern ausverkauft ist, macht sie Schulden. Knapp 350 000 Euro kostet das Event, sie hätte es auch billiger haben können, hätte für den Promoter Felix Sturm boxen können, hätte für ihre beiden ersten Kämpfe nach Las Vegas gehen können. Sie wollte es nicht billiger, sie wollte nicht zu Felix Sturm, und nach Las Vegas kann sie auch noch später. Der erste Kampf sollte in Ulm stattfinden, hier, wo sie die Menschen schon angesprochen haben, als sie eine sehr gute Boxerin war, ohne Geschichte.

El-Halabi hat einen weiteren Tag im Box-Gym hinter sich. Am nächsten Tag stehen wieder zwei Trainingseinheiten an. Sie wird im Boxring stehen, über jeden Schlag, über jeden Schritt wird sie selbst bestimmen. Es ist das Leben, das sie sich ausgesucht hat.

Rola El-Halabi verabschiedet sich, dann geht sie in die Kabine. Alleine. Sie zieht die Tür hinter sich zu.

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