Anatoli Timoschtschuk im Interview:"Natürlich benutzt die Politik den Fußball"

Bayerns Mittelfeldspieler Anatoli Timoschtschuk im Gespräch über die Probleme des EM-Gastgebers Ukraine, seine schwierige Zeit unter Louis van Gaal, die Gelassenheit von Jupp Heynckes und freundliche Oligarchen in Russland.

Johannes Aumüller

Anatoli Alexandrowitsch Timoschtschuk, 32, mag einer der unauffälligeren Vertreter im Kader des FC Bayern München sein. In seiner Heimat Ukraine ist er fast schon eine Fußball-Ikone: Rekordnationalspieler mit 111 Länderspielen, dreimal Meister (2002, 2005, 2006) und dreimal Pokalsieger (2001, 2002, 2004) mit Schachtjor Donezk, wo er von 1998 bis 2007 unter Vertrag stand. Mit Zenit Sankt Petersburg gewann er 2008 den Uefa-Cup. Ein Jahr später wechselte der Mittelfeldspieler für geschätzte elf Millionen Euro zu den Bayern, wo ihn der neue Trainer Louis van Gaal mit wenig motivierenden Worten empfing: "Ich brauche dich nicht." Ein Gespräch über Timoschtschuks Perspektiven in München, die anstehende EM 2012 in Polen und der Ukraine - und über den Fußball in einem politisch instabilen, von Oligarchen dominierten Land.

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Der ukrainische Mittelfelspieler Anatoli Timoschtschuk über Politik und Fußball: "In Russland ist es noch viel schlimmer als in der Ukraine".

(Foto: dapd)

SZ: Anatoli Alexandrowitsch, in sieben Monaten beginnt in der Ukraine die Fußball-EM. Die Erwartungen im Land sind riesig. Ihre auch?

Anatoli Timoschtschuk: Unser erstes Ziel ist es, die Gruppenphase zu überstehen. Aber ich denke, dass wir mehr erreichen können. Ich träume vom Endspiel.

SZ: Die jüngsten Ergebnisse rechtfertigen dieses Ziel nicht gerade. Von den vergangenen sechs Spielen hat die ukrainische Nationalelf nur zwei gewonnen.

Timoschtschuk: Testspiele sind immer eine Möglichkeit, junge Akteure einzusetzen und an der Abstimmung zu feilen. Uns haben sicher in einigen Partien Erfahrung und Konzentration gefehlt, so haben wir kurz vor Schluss verloren. Aber jetzt, in der Vorbereitung auf die EM, dürfen wir ja noch Fehler machen.

SZ: Es fällt auf, dass nur wenige Profis aus dem Kader der Ukraine im Ausland spielen. Im Prinzip nur Sie.

Timoschtschuk: Und noch zwei in der russischen Liga, aber das sind vielleicht keine klassischen Legionäre. Ja, das ist in der Tat ein weiteres Minus. Es wäre für uns besser, wenn mehr Leute im Ausland spielen würden. Ich denke dabei nicht an irgendwelche Jünglinge, sondern an diejenigen, die bei ukrainischen Vereinen zu den Leadern zählen.

SZ: Woran scheitert es denn?

Timoschtschuk: Das hat verschiedene Gründe. Die meisten Nationalspieler stehen in Kiew, Donezk, Charkow und Dnjepropetrowsk unter Vertrag. Diese Vereine investieren sehr viel, um die Spieler zu halten, und das hat wiederum viel mit der Ausländerquote zu tun, die in der Liga gilt. Derzeit müssen immer vier Ukrainer auf dem Platz stehen - und bald wohl noch mehr. Wer an der Spitze mitspielen und auch international Erfolg haben möchte, braucht also viele gute ukrainische Fußballer. Das ist so ähnlich wie in Russland: Auch von dort gehen nicht so viele Spieler weg.

SZ: Gibt es nicht auch so etwas wie eine osteuropäische Mentalität, die Spieler daran hindert, den Schritt nach England, Spanien, Deutschland zu gehen?

Timoschtschuk: Das kann sein, ja. Aber es spielen doch auch nur wenige Deutsche im Ausland, oder nicht?

SZ: Das Niveau der Bundesliga ist aber auch etwas höher als das der ukrainischen Liga.

Timoschtschuk: Natürlich, und nicht nur das Niveau, sondern auch die Organisation, die Begeisterung, die vollen Stadien - das gibt es weder in der Ukraine noch in Russland. Aber das ist nicht der Punkt. Die Spieler in Deutschland erleben das von Beginn an und fühlen sich deswegen so wohl. Die Spieler in der Ukraine kennen das gar nicht und sind mit den Bedingungen dort zufrieden. Aber ich stelle fest, dass es unter den jüngeren Spielern immer mehr gibt, die sagen: Um ein guter Fußballer zu werden, muss ich ins Ausland gehen.

SZ: Die Ukraine ist politisch ein gespaltenes Land. Glauben Sie, die EM wird helfen, die Trennlinie zwischen dem eher nach Europa orientierten Westen und dem eher Russland zugewandten Osten zu überwinden?

Timoschtschuk: Das mit der Spaltung ist falsch. Man sollte nicht der politischen Propaganda nachgeben.

SZ: Es gab bei den Präsidentschaftswahlen viele Regionen, in denen der jeweilige Kandidat mehr als 90 Prozent der Stimmen erhielt. Der Ost-Kandidat im Osten, der West-Kandidat im Westen.

Timoschtschuk: Unser Land ist für uns genauso wenig gespalten wie Deutschland für einen Deutschen gespalten ist. Überall gibt es Unterschiede zwischen den verschiedenen Teilen und Regionen.

"Achmetow ist ein sehr offener Mensch"

SZ: Ein wenig scheint es, als würde es vor allem ein ostukrainisches Turnier werden. Die Austragungsorte sind die Hauptstadt Kiew, die beiden Ost-Städte Donezk und Charkow - und aus dem Westen nur Lwow.

Timoschtschuk: Kiew und Donezk sind klar, das sind die beiden wichtigsten Fußball-Städte mit den schönsten Stadien. Ich denke, Lwow wurde gewählt, weil es nur einige Kilometer entfernt von Polen liegt. So haben manche Fans die Möglichkeit, relativ einfach sowohl in Polen als auch in der Ukraine Spiele zu schauen. Bleibt noch Charkow. Ja, man hätte Odessa wählen können, auch aus touristischen Gründen, das wäre noch eine Stadt in der Mitte gewesen. Vielleicht lag es daran, dass in Charkow das Stadion schon fertig war und der Neubau in Odessa erst begonnen wurde.

SZ: Es ist auch auffällig, dass bis auf eine Ausnahme nur Spieler aus Kiew und den Ost-Vereinen im Kader stehen.

Timoschtschuk: Aber wenn Sie sich die einzelnen Biographien anschauen, sehen Sie, dass in der Nationalelf viele verschiedene Regionen vertreten sind, auch einige Akteure, die in der Westukraine geboren wurden (aktuell vier, Anm. d. Red.). Ich selbst komme ja aus Luzk, also aus der Westukraine. Aber es gibt dort nur wenige Erstligisten, und sobald ein Spieler ein gutes Jahr absolviert, wechselt er sofort zu Kiew oder Donezk.

SZ: Warum sind denn die Klubs im Osten generell so viel stärker?

Timoschtschuk: Im Osten gibt es viele große industrielle Gruppen, das ist historisch so gewachsen. Diese Gruppen unterstützen den Fußball, und deswegen haben die Klubs dort viel bessere finanzielle Möglichkeiten als im Westen.

SZ: Hinter allen Klubs im Osten stehen sehr einflussreiche Oligarchen: in Donezk, wo Sie lange gespielt haben, Rinat Achmetow, in Kiew Grigorij Surkis, in Charkow Alexander Jaroslawskij.

Timoschtschuk: Das dokumentiert gut eine Entwicklung der vergangenen Jahre. Es gab eine Zeit, da interessierte sich bei uns niemand für den Fußball. Die Vereine waren mehr oder weniger in staatlicher Hand, das Niveau blieb niedrig. Deswegen übernahmen Privatleute die Klubs, und ich denke, das hat dem Fußball sehr genutzt. Nehmen wir als Beispiel Achmetow in Donezk. Er investierte viel Geld, verstärkte das Team und die Infrastruktur und baute ein neues Stadion. Nur so kann sich in der Ukraine der Fußball entwickeln.

SZ: Wie so viele andere, die in der Ukraine mit dem Fußball zu tun haben, schwärmen Sie von Achmetow. Doch für viele ist er eine dubiose Figur. Er ist einer der reichsten Männer Europas, gilt als Präsidentenmacher und Pate von Donezk. Auch ukrainische Journalisten stellen inzwischen die Frage, ob er sich im Dunstkreis der Mafia bewegt. Stört Sie das gar nicht?

Timoschtschuk: Ich denke, man sollte jeden Menschen nach seinen Taten beurteilen und nicht nach Berichten und Gerüchten, die häufig keinen Bezug zur Realität haben. Achmetow ist ein sehr offener Mensch. Ich kenne ihn nun schon mehr als zehn Jahre und muss sagen, dass er ein gebildeter und kluger Mensch ist, der immer sein Wort hält. Er steckt seine ganze Liebe in den Aufbau von Schachtjor und der Stadt Donezk.

SZ: Wie muss man sich das vorstellen: Wie nahe ist ein Mann wie Achmetow an der Mannschaft?

Timoschtschuk: Eng. Als ich damals in Donezk gespielt habe, kam er oft zum Training und im Prinzip zu allen Heimspielen, er sprach viel mit den Spielern und kam oft in die Kabine.

SZ: Spricht er auch über Taktik oder andere unmittelbare Fußball-Dinge?

Timoschtschuk: Nein, er ist der Besitzer des Klubs und zugleich sein größter Fan. Doch was den Fußball angeht, konzentriert er sich darauf, dem Trainer gute Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. So ähnlich ist das bei den anderen Vereinen auch, zumindest in Kiew mit Surkis und in Charkow mit Jaroslawskij.

SZ: Diese Klub-Besitzer sind zugleich auch politisch und wirtschaftlich einflussreich. Das ist schon eine immense Verflechtung der Politik mit dem Sport.

Timoschtschuk: Natürlich versucht die Politik, den Fußball zu benutzen. Aber erstens ist das ja nicht nur in der Ukraine so, sondern überall auf der Welt. Und zweitens ist es in der Ukraine nicht so intensiv. In Russland ist der Einfluss viel größer. Schauen Sie sich doch einmal an, wer da zu den Klubbesitzern gehört: Gazprom sponsert Zenit, die staatliche Eisenbahn sponsert Lokomotive Moskau, Lukoil sponserte früher Spartak.

SZ: Noch etwas anderes belastet das Image des ukrainischen Fußballs: Spielmanipulationen. Im vergangenen Jahr musste sogar der Nationaltrainer Markewitsch gehen, weil gegen eine früher von ihm trainierte Mannschaft eine Strafe verhängt wurde.

Timoschtschuk: Aber in diesem Fall ist nichts bewiesen. Er ist nur gegangen, weil der Druck irgendwann zu groß war. Natürlich gibt es ein Problem mit abgesprochenen Spielen, und es ist schwer, dagegen anzukämpfen. Aber ich denke, dass das auf der ganzen Welt existiert. Auch Italien hatte einen großen Skandal.

"Unter van Gaal war alles anstrengend"

SZ: Und in Deutschland haben viele Schiedsrichter jetzt ein Problem mit dem Finanzamt. Aber es erscheint schon so, als sei das Problem in der Ukraine noch etwas struktureller.

Timoschtschuk: Das ist auch eine Frage der Wahrnehmung. Wenn in Deutschland ein Schiedsrichter einen Fehler macht, sagen alle: Das ist ein bedauerlicher menschlicher Fehler. Wenn in der Ukraine ein Schiedsrichter ein Fehler macht, heißt es sofort: Das hat er extra gemacht. Nach jedem Spiel ist das so, nach jedem Fehler.

SZ: In Deutschland bekommen die Schiedsrichter zumindest in der Bundesliga mehr als 4000 Euro pro Partie. Glauben Sie, eine so gute Bezahlung reduziert das Risiko der Verführbarkeit?

Timoschtschuk: In der Ukraine und auch in Russland sind es noch mehr! In Deutschland ist es so, dass alle Schiedsrichter noch einen anderen Beruf haben, oder?

SZ: Ja.

Timoschtschuk: In der Ukraine und in Russland ist das unüblich. Ich finde, sie verdienen in beiden Ländern genug. Es geht nicht ums Geld, sondern um Qualifikation. Bei uns hat sich lange niemand um die Ausbildung der Schiedsrichter gekümmert. Deswegen hat man zum Beispiel vor einem Jahr den ehemaligen Welt-Schiedsrichter Pierluigi Collina zum Chef der Schiedsrichter-Kommission bestellt. Ich denke, der kümmert sich jetzt um einige wichtige Dinge.

SZ: Der ehemalige slowakische Fifa-Schiedsrichter Lubos Michel arbeitet jetzt für Schachtjor Donezk.

Timoschtschuk: Sowohl die Ukraine als auch Russland wissen, dass sie nicht unter sich bleiben dürfen, wenn sie international Erfolg haben wollen. Lubos Michel ist eine sehr bekannte Figur. Wenn ich Mitarbeiter der Fifa oder der Uefa wäre, würde ich mich freuen, mit so jemandem zu tun zu haben.

SZ: Zurück zu Ihnen: Nach Ihrem Wechsel zum FC Bayern im Sommer 2009 haben Sie unter Louis van Gaal zwei harte Jahre erlebt.

Timoschtschuk: Van Gaal sagte mir bei der ersten Trainingseinheit, dass er mich nicht verpflichtet hat, und dass er so einen Spieler wie mich nicht braucht. Da hatte ich noch nicht ein Mal trainiert! In so einer aussichtslosen Situation zu arbeiten, war sehr schwer. Ich hätte wechseln können, aber als Profi muss man auch bereit sein, mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Und ich kann von mir behaupten, dass ich immer 100 Prozent gegeben habe.

SZ: Inzwischen sind Sie etabliert, unter dem neuen Trainer Jupp Heynckes wechseln Sie sich auf der von Ihnen bevorzugten Sechser-Position mit Luiz Gustavo ab.

Timoschtschuk: Heynckes hat in unserem ersten Gespräch gesagt: Ich habe dich damals bei Zenit gesehen, ich habe dieses und jenes von dir gesehen, und ich denke, die Sechs ist deine stärkste Position. Und ich habe das ja auch immer so gesagt. Als van Gaal mich manchmal als Innenverteidiger aufgestellt hat, habe ich das natürlich auch gespielt, aber ich glaube, dass ich der Mannschaft als Sechser mehr nutze.

SZ: Was hat sich mit dem Trainerwechsel im Team insgesamt geändert?

Timoschtschuk: Unter van Gaal war alles anstrengend und der Druck sehr groß. Von jedem Spieler forderte der Trainer konkret: Mach das, das, das! Im Prinzip spielte die Mannschaft ja nicht schlecht, aber psychologisch war das nicht immer einfach. Mit Heynckes entstand eine viel gelöstere Situation. Er brachte einfach Gelassenheit in die Mannschaft, und diese Gelassenheit ermöglicht es den Spielern jetzt, noch viel besser zu arbeiten.

SZ: Nach dieser Saison läuft Ihr Vertrag aus. Wollen Sie verlängern?

Timoschtschuk: Es gibt in meinem aktuellen Vertrag eine Klausel, nach der er sich automatisch verlängert, wenn ich eine bestimmte Prozentzahl an Spielen bestreite. Insgesamt gefällt es mir und meiner Familie hier sehr gut. Wenn der Klub verlängern möchte, könnte ich mir das gut vorstellen.

SZ: Sie haben aber auch immer gesagt, dass Sie eines Tages in die Ukraine oder nach Russland zurückkehren wollen. Nächsten Sommer sind Sie 33, wird es dann nicht Zeit?

Timoschtschuk: Das stimmt, aber zurückkehren nicht im Sinne von zurückkehren und dort noch lange spielen. Ich meinte, dass ich meine letzten sechs Monate als Fußballer noch einmal für Schachtjor oder auch für Zenit auflaufe. Die Leute dort haben mich in meiner Karriere so viel unterstützt, dafür würde ich mich gerne bedanken. Mit 36 oder 37 Jahren dort noch einmal zu spielen, das könnte ich mir gut vorstellen.

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