American Football:Wenn der Brocken weint

Seattle Seahawks at Atlanta Falcons

Tony Gonzalez: harter Brocken mit Tränen.

(Foto: dpa)

Die Playoffs zeigen den taktischen Wandel im American Football: Die Mannschaften passen häufiger, sie riskieren mehr, sie spielen schneller. Das führt zu mehr Punkten und dramatischeren Partien - was die Zuschauer nur freuen kann.

Von Jürgen Schmieder

Tony Gonzalez spielt seit 16 Jahren in der National Football League (NFL), der Tight End der Atlanta Falcons hat mehr als 250 Partien absolviert. Mit seiner Statur, er ist 1,96 Meter groß und 112 Kilogramm wuchtig, könnte er durchaus als Mensch gewordene Naturgewalt durchgehen.

Am Sonntag stand dieser Brocken beim Playoff-Spiel gegen die Seattle Seahawks an der Seitenlinie und sah Sekunden vor dem Ende dem Spielgerät dabei zu, wie es durch die Torstangen flog. Dann sank er zu Boden und weinte. Vor Freude. Durch den erfolgreichen Field-Goal-Versuch gewannen die Falcons das Viertelfinale 30:28.

Wenn einer wie Gonzalez weint, dann muss Verrücktes, Dramatisches, Monumentales passiert sein. Für Gonzales war das Spiel alleine deshalb prägend, weil er zum ersten Mal eine Playoff-Partie gewinnen konnte, nachdem er zuvor fünf Mal gescheitert war. "Das hat sehr, sehr lange gedauert", sagte Gonzalez danach.

Diese Partie war auch dramatisch: Die Falcons hatten zur Pause 20:0 geführt, brachen danach jedoch ein und lagen 25 Sekunden vor Schluss zurück. Quarterback Matt Ryan spielte zwei schnelle Pässe, einen davon auf Gonzalez. Das war genug, damit Kicker Matt Bryant den Ball aus 51 Yards Entfernung durch die beiden Stangen dreschen durfte. "Das war einfach nur verrückt", sagte Gonzalez.

Die Partie zwischen den Falcons und den Seahawks steht exemplarisch für ein Playoff-Wochenende, das auf der Homepage der NFL ganz unbescheiden umschrieben wird: "Best. Weekend. Ever." Die vier Partien waren spannend und voller Wendungen, die Baltimore Ravens etwa besiegten die Denver Broncos erst in der zweiten Verlängerung mit 38:35.

Die Spiele sind auch sinnbildlich für den Wandel, der sich in den vergangenen Jahren vollzogen hat. Intensive statistische Analysen und daraus resultierende Bücher wie Scorecasting von Tobias Moskowitz und Jon Wertheim haben zu einem Umdenken bei vielen Trainern geführt und letztlich die Sportart taktisch stark verändert, was sich vereinfacht beschreiben lässt mit: mehr Pässe, mehr Risiko, mehr Tempo.

Vor 25 Jahren noch war die Spielzugauswahl zwischen Pass- und Laufspiel nahezu ausgewogen, mittlerweile wählen die Mannschaften bei mehr als 60 Prozent der Spielzüge eine Passformation. Es hat sich herausgestellt, dass diese Wahl effizienter ist - vor allem dann, wenn ein Team über einen Spielmacher verfügt, der auch laufen kann, falls keiner seiner Mitspieler anspielbar ist.

New England Patriots quarterback Tom Brady looks down field as he prepares to pass during the first quarter of their NFL AFC Divisional playoff football game against the Houston Texans in Foxborough

Tom Brady: durchschnittliche Leistung, dennoch drei Pass-Touchdowns.

(Foto: REUTERS)

Mehr Risiko, schnellere Spielzüge

Das war beim Spiel der San Francisco 49ers gegen die Green Bay Packers zu beobachten: Die Defensive der Packers konzentrierte sich derart darauf, die gegnerischen Passempfänger zu decken, dass 49ers-Quarterback Colin Kaepernick bisweilen ungehindert 20 Yards nach vorne laufen durfte. Am Ende schaffte er zwei Touchdowns und 181 Yards durch Läufe, ein neuer Playoff-Rekord für einen Quarterback, dazu passte er für 263 Yards und zwei Mal in die Endzone. "Wir konnten ihn zu keiner Zeit stoppen", sagte Packers-Verteidiger Charles Woodson nach dem Spiel, "entweder hat er uns mit langen Pässen weh getan - oder er ist gelaufen. Das ist kaum zu verteidigen." Die 49ers gewannen am Ende deutlich mit 45:31.

Pässe sind natürlich risikoreicher als Laufspielzüge, doch sind die Trainer mittlerweile bereit, dieses Risiko einzugehen - so wie sie bei einem vierten Versuch immer öfter darauf verzichten, den sogenannten Punter das Spielgerät möglichst weit nach vorne treten zu lassen, sondern durch einen weiteren Spielzug das First Down zu erreichen.

Die Seattle Seahawks probierten es gegen die Atlanta Falcons immer wieder, auch wenn die ersten beiden Versuche erfolglos waren. "Die Analysen haben gezeigt, dass diese Variante in vielen Momenten effektiver ist als ein Punt, also haben wir es weiter versucht", sagte Seahawks-Trainer Pete Carroll.

Die höhere Geschwindigkeit präsentieren die Atlanta Falcons, aber auch die New England Patriots. Noch vor wenigen Jahren besprachen die Offensiv-Akteure fast jeden Spielzug, mittlerweile kommt es immer häufiger vor, dass sie sich sogleich wieder aufstellen und auf eine kurze Ansage vom Spielmacher warten.

Die gegnerischen Defensivspieler haben deshalb kaum Zeit, die Formation zu wechseln und sich auf eine Strategie zu einigen. Patriots-Quarterback Tom Brady schaffte auf diese Weise trotz einer insgesamt eher durchschnittlichen Leistung beachtliche 344 Yards und drei Touchdown-Pässe, New England (mit dem deutschen Offensivspieler Sebastian Vollmer) gewann gegen die Houston Texans mit 41:28.

Am kommenden Wochenende empfangen die Patriots die Ravens, die 49ers reisen zu den Falcons. Es dürften tempo- reiche und dramatische Partien mit vielen Pässen, riskanten Spielzügen und zahl- reichen Punkten werden - und Tony Gonzalez könnte erneut ein paar Tränen vergießen: "Wenn ich weinen muss, dann weine ich eben wieder."

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