Abschied in New York:In einem Orkan der Anerkennung

Andre Agassi verliert das 1144. Match seiner Karriere gegen einen Deutschen namens Becker und tritt unter Ovationen zurück. Die langen Jahre als Profi haben Spuren hinterlassen: Agassi klagt über "schlimme Schmerzen wie noch nie".

Milan Pavlovic

Nichts an Andre Agassis Abschiedsturnier war normal, warum sollte es dann sein 1144. und letztes Profi-Match sein?

Abschied in New York: Feucht-fröhlicher Abschied: Agassi weint und verneigt sich vor dem Publikum, das ihn liebte wie kaum einen anderen Tennisspieler.

Feucht-fröhlicher Abschied: Agassi weint und verneigt sich vor dem Publikum, das ihn liebte wie kaum einen anderen Tennisspieler.

(Foto: Foto: Reuters)

Der 36-Jährige verlor es gegen Benjamin Becker 5:7, 7:6 (4), 4:6, 5:7, aber das Ergebnis sagt wenig über das Spiel und die einzigartige Atmosphäre, die im Arthur Ashe Stadium herrschte, in dem passenderweise erstmals während dieses Turniers die Sonne auf die Athleten lächelte.

Die Stille des Moments, als Becker sein letztes Ass serviert hatte, wich einem Orkan der Anerkennung, als es galt, Agassi zum letzten Mal von einem Center Court zu verabschieden.

Der kluge B. Becker

Während der fünfminütigen Standing Ovation überkamen den Gewinner von acht Grand-Slam-Turnieren die Emotionen, Tränen flossen, und er kämpfte weiter mit seinen Gefühlen, als er der TV-Kommentatorin Mary Joe Fernandez das Mikrofon stiebitzte und sich an das Publikum wandte - jenes, das anwesend war, aber auch an alle Zuschauer, die ihn über die 20 Jahre seiner Karriere begleitet hatten:

"Die Anzeigetafel sagt, dass ich heute verloren habe", sagte er, "aber sie verschweigt, was ich gefunden habe in den vergangen zwei Jahrzehnten. Ich habe Eure Loyalität gewonnen, und ihr habt mich durch Eure Generosität gezwungen und inspiriert, besser zu werden. Ihr habt mir die Schultern gegeben, auf die ich mich stellen konnte, um meine Träume zu verwirklichen. Die Erinnerung daran wird mich mein Leben lang begleiten."

Dann verließ er den Platz unter ohrenbetäubendem Jubel. "Es wirkte wie ein Film auf mich", sagte Becker über die unwirkliche Atmosphäre auf dem Platz und hielt sich demonstrativ zurück, weil er fand, dass "dieser Tag Andre gehört". Auf dem Platz hatte Becker so nicht agiert.

Phasenweise 220 km/h

Er begann klug, beinahe so, als sei er der Veteran. Er ließ sich nicht überrumpeln, beging aber auch nicht den Fehler, das Tempo zu forcieren. Der 25-Jährige verblüffte Agassi mit seinen Tempo-Variationen, nicht nur bei seinem Aufschlag, den er phasenweise mit 220 km/h servierte, dann aber auch immer wieder mit viel Schnitt auf die Vorhand.

Damit überraschte er den weltbesten Return-Spieler, und er zwang den Amerikaner, sich zu strecken, was diesem nach all den Qualen seiner Rückenprobleme und den auslaugenden ersten Partien dieser US Open sichtlich schmerzte, auf jeden Fall mehr abverlangte, als die Rückhand zu spielen.

"Nach dem Sieg gegen Baghdatis hatte ich schlimme Schmerzen wie noch nie", erzählte Agassi, und sein Manager Perry Rogers verriet: "Es war so schlimm, dass er sich auf dem Weg zum Auto hinlegen musste und dann im Wagen hinten hin."

Dazu passte die Aussage von Baghdatis' Trainer Guillaume Peyre, der erschrocken über die Szene in der Kabine berichtete, als beide behandelt wurden: "Die beiden sahen auf ihren Liegen wie Tote aus." Agassis Vater äußerte auch deshalb den Wunsch, sein Sohn solle mit diesem Sieg zurücktreten, aber das ist nicht Agassis Stil.

Noch einmal zwei Spritzen

"Wenn ich hätte zurücktreten wollen, hätte ich mir die Anstrengung der ersten Runden sparen können." Also ließ er sich noch zwei Spritzen mit steroidfreien Entzündungshemmern setzen und versuchte sich gegen Becker.

Mitte des zweiten Satzes bewegte sich Agassi so schlecht wie wohl noch nie in seiner 20-jährigen Karriere - oder zumindest so schlecht wie im Mai 2005, als in Paris seine Rückenprobleme erstmals offensichtlich wurden:

Damals verlor er gegen den Finnen Jarkko Nieminen die beiden abschließenden Sätze 1:6, 0:6 und gab nur deshalb nicht auf, weil er das unsportlich findet, "solange ich mich noch irgendwie auf den Beinen halten kann". Die Schmerzen waren so gewaltig, dass er danach für den Rest seiner Karriere nur ein Ziel hatte: "Es gibt nur eines, das ich vermeiden will: Ich möchte nicht in meinem letzten Match vom Platz humpeln."

Gegen Becker sah es eine Weile lang so aus, als würde genau das passieren. "Es gibt nichts Lauteres als das Schweigen von 23 000 New Yorkern", hatte Agassi schon nach seinem knappen Erstrundensieg gesagt, weil die Euphorie mitunter zwischen zwei Ballwechseln lähmendem Entsetzen wich.

Sorgen um Andre

Die Fans schienen sich zu sorgen, dass Agassi an diesem Tag mehr als nur ein Spiel verlieren könnte. Aber Agassi gab nicht auf, im Gegenteil. Und mit einem Mal fiel allen im Stadion auf, dass auch mit dem Deutschen etwas nicht stimmte. Mitte des zweiten Satzes verließ Becker immer häufiger seine Strategie, und auch wenn er im dritten Satz mit 3:0 in Führung ging und den Durchgang mit 6:4 gewann, wirkte auch er plötzlich angeschlagen.

Schon Baghdatis war daran gescheitert, dass die psychischen Anstrengungen zu groß wurden und schließlich die Physis angriffen. Im vierten Satz ließ Becker Agassis Aufschlagspiele laufen - bis ihm bei 5:5 aus dem Nichts vier Gewinnschläge gelangen, die ihm sein erstes Achtelfinale auf der Profitour bescherten.

"Ich habe schon vorher gegen B. Becker verloren", scherzte Agassi, und beantwortete die Frage, was er nun fühle, Erleichterung oder Trauer: "Erleichterung. Es ist mir sogar egal, wie ich mich derzeit körperlich fühle. Und das ist ein Luxus, den ich noch nie hatte."

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