Abgereiste Ruderin Nadja Drygalla:Rätselhafte Athletin aus Rostock

In der Affäre um die Ruderin Nadja Drygalla und ihre Beziehung zu einem vermeintlichen Rechtsextremisten häufen sich die Irritiationen. Die deutschen Sportverbände müssen sich nun unangenehmen Fragen stellen. Haben die Funktionäre womöglich sogar bewusst weggesehen?

Thomas Kistner

Hans Sennewald ist nicht zu fassen. Sein Mobiltelefon ist ausgeschaltet, die Funktionäre des Deutschen Ruderverbandes (DRV) haben es nicht geschafft, mit dem Multi-Funktionär aus Rostock in Verbindung zu treten. Dass Sennewald für sie nicht erreichbar ist, zugleich aber der Deutschen Presse-Agentur ein Interview gab, indem er sie der Mitwisserschaft im Fall der Ruderin Nadja Drygalla bezichtigt, erhitzt die Gemüter jeden Tag ein bisschen mehr.

Germany's Nadja Drygalla prepares for a training session at Eton Dorney before the London 2012 Olympic Games

"Bei ihr war es ein offenes Geheimnis": In Athletenkreisen wurde über Nadja Drygalla gesprochen.

(Foto: REUTERS)

Seit Freitag reiben sie sich in London ja an einem Thema auf, das heikler nicht sein könnte bei Olympischen Spielen, dem Fest für Völkerverständigung und die Erziehung der Weltjugend: Die deutsche Athletin Drygalla hat, nachdem ihre Beziehung mit einer zentralen Figur aus der rechtsextremen Szene in Rostock aufflog, die Spiele fluchtartig verlassen.

Sennewald wäre nun der ideale Gesprächspartner für DRV und Olympia-Delegation. Er ist in Personalunion Chef des Ruder-Landesverbands Mecklenburg-Vorpommern und des Rostocker Olympia-Stützpunktes - und zudem ist er Vater von Ulrike Sennewald, die mit Drygalla seit vielen Jahren im Zweier- und im Achter-Boot fährt.

Insofern gesellt sich zu der Kommunikationspanne, die der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) als politisches Leitgremium des schwarz-rot-goldenen Trosses beklagt, ein organisatorisches Defizit. Oder entzieht sich der nordostdeutsche Spitzenfunktionär den Kollegen gezielt?

Die Sache nicht so hoch gehängt

Es sind unangenehmen Fragen, die auf Sennewald warten, der 1992 in Barcelona selbst Bronze mit dem Deutschland-Achter gewann. Er sieht Drygalla "in Sippenhaft genommen" wegen des Freundes und riet ihr abzutauchen; Sonntagnachmittag gab sie trotzdem ein erstes Interview.

Auch was Sennewalds Funktionärskollegen bisher sagten, schafft wenig Klärung in der Frage, wieso die sportpolitische Leitung der Olympiafahrer nichts von Drygallas Umfeld wusste. Dieses Umfeld erschien dem Innenministerium Mecklenburg-Vorpommerns schon im Frühjahr 2011 so problematisch, dass es Drygalla zum Austritt aus dem Polizeidienst drängte.

Am Freitag teilte die Behörde mit: "Nachdem dem Innenministerium bekannt wurde, dass Personen zum Bekanntenkreis von Drygalla gehören, die der offen agierenden rechtsextremistischen Szene zugehörig sind, wurden mit ihr intensive Personalgespräche geführt, die dazu führten, dass sie einen Antrag auf Entlassung stellte." Der wurde flott bewilligt, Ende September 2011 war Drygallas Zukunft als Beamtin erledigt.

Das Innenministerium wusste also seit mehr als einem Jahr Bescheid. Eingeweiht war auch der Landessportbund, bestätigt dessen Präsident, Manfred Remer. Nur der DOSB sei nicht informiert worden; man habe die Sache nicht so hoch gehängt.

Vorläufig haben sich die Sportfunktionäre auf die Position zurückgezogen, man dürfe Drygalla nicht wegen ihrer Privatbeziehung vorverurteilen. "Nadja ist nie durch rechtsradikales Gedankengut aufgefallen", sagt der Chef ihres Heimatklubs ORC Rostock, Walter Arnold, er findet es "erbärmlich", dass sie in "Sippenhaft genommen" werde. Auch Remer steht zu ihr.

Und Michael Vesper, DOSB-Generaldirektor und Chef de Mission des deutschen Olympia-Teams, sagte nach einem 90-minütigen Gespräch mit Drygalla am Freitag: Er bezweifle nicht, dass sie "auf dem Boden des Grundgesetzes und der olympischen Werte" stehe. "In Deutschland gibt es Gott sei Dank den Grundsatz, dass jeder für seine eigenen Taten verantwortlich ist und nicht für die seines Umfeldes."

Ahnungslose politische Spitze

Das ist aber nur eine Seite der Medaille. Die Kernfrage lautet ja, wieso Drygallas behörden- und sportbekannte private Nähe zu einer Größe des rechten Lagers im nationalen Sport so wenig geläufig war, dass sie trotz schärfster Überprüfungen durch Ministerien und Geheimdienste, denen sich jeder für Olympia akkreditierte Teilnehmer unterziehen muss, nach London reisen durfte - und sogar kurz vor der Eingliederung in die Bundeswehr-Förderung stand? Der Antrag der Athletin, sagte DRV-Sportdirektor Mario Woldt, sei "nun erst einmal zurückgezogen" worden.

Vesper hat aus der Londoner Defensive etwas Bemerkenswertes gesagt. Der DOSB wisse, "dass Rechtsradikale in vielen Vereinen versuchen, auf Posten zu kommen - wir sind hellwach auf diesem Gebiet". Im Fall Drygalla ist das nicht erkennbar. Dabei war deren umstrittener Partner früher selbst ein nationaler Leistungssportler. Mit dem "kleinen Deutschland-Achter", wie der Landesverband schrieb, war er bei der Junioren-WM 2006 in Amsterdam als Schlagmann unterwegs. In Athletenkreisen ist das bekannt; zwei frühere Mitstreiter holten in London Gold mit dem Achter.

Auch über Drygalla selbst wurde in Athletenkreisen offen gesprochen. In London sagte die Ruderin Carina Bär: "Wir haben intern öfter diskutiert, dass wir solche Haltungen nicht tolerieren. Bei ihr war es ein offenes Geheimnis." Gemeint sei Drygallas politische Gesinnung. Dies bestätigten laut der Nachrichtenagentur dapd andere Athleten, die ungenannt bleiben wollten.

Druck auf die Sportfunktionäre

All das erhöht den Druck auf die Sportfunktionäre - und auf das Bundesinnenministerium, das bei Nominierungs- und Sicherheitsfragen ein gewichtiges Wort mitzureden hat. Die Vorgänge, die Drygalla 2011 in den Fokus ihres Dienstherrn brachten, der Landespolizei, müssen ja auch zu Erkenntnissen beim Verfassungsschutz geführt haben. Doch bei der Olympia-Berufung lag offenkundig nichts vor.

Trotzdem griff DOSB-Präsident Thomas Bach am Samstag in London "erbost" Politiker an - wie Dagmar Freitag, Chefin im Bundestags-Sportausschuss. Ihr Gremium werde sich "wohl noch im September" mit der Affäre befassen, sagte Freitag im Deutschlandfunk. "Für mich ist völlig unvorstellbar, dass eine Spitzenathletin aus einer Sportfördergruppe ausscheidet und absolut niemand im organisierten Sport will etwas davon gewusst haben."

Auch Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich fordert nun, die Causa müsse "umfassend geklärt werden". Sein Mecklenburger Kollege Lorenz Caffier stößt ins selbe Horn. Die Sache wird brisant, zumal er bestätigt, in die Gespräche seiner Behörde mit Drygalla 2011 seien "auch der Landessportbund und ihr Verein einbezogen" worden. Caffier sitzt jedoch auch im Aufsichtsrat der Nationalen Anti-Doping-Agentur wie DOSB-General Vesper; dort hatten sie zuletzt sehr viel zu tun. Wäre ein klärender Zuruf nicht angezeigt gewesen?

Behörden, Klub, Landesverbände wussten es, Athleten redeten darüber. Nur die politische Spitze des nationalen Sports war ahnungslos. Es sei "inakzeptabel, die Aussagen und das Vorgehen der Mannschaftsleitung in Zweifel zu ziehen", schimpfte Bach in London. Dort war Missionschef Vesper von Drygalla auch über deren freiwilligen Austritt aus dem Polizeidienst informiert worden. Nicht aber, sagt DRV-Funktionär Woldt, der dem Gespräch beigewohnt hatte, dass dies nur auf intensiven Druck des Dienstherrn geschehen war.

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