Thomas Müller im Gespräch:"Ich bin ein Raumdeuter"

WM-Torschützenkönig Thomas Müller über das Jahr seines Aufstiegs, die Vorzüge seiner dünnen Beine und die Beziehung zum eigenwilligen Bayern-Trainer Louis van Gaal.

Andreas Burkert

SZ: Herr Müller, wo ist der Goldene Schuh für den besten WM-Schützen?

Bayern Munich's Thomas Mueller attends a training session at Aspire Academy for Sports Excellence in Doha

"Wichtig ist, wenn das Ding drin ist", sagt Thomas Müller.

(Foto: REUTERS)

Thomas Müller: Zuhause, bei mir im Spielezimmer, wo die Dartscheibe und die Play Station sind. Da steht auf dem Fensterbrett alles, was sich jetzt so angesammelt hat. Bevor es in den Kisten staubig wird, stell' ich es lieber raus.

SZ: Der Anlass Ihrer Auszeichnung, die deutsche WM-Leistung in Südafrika, war Bestandteil jedes Jahresrückblicks. Haben Sie sich das angeschaut, wenn plötzlich dieser Müller durchs Bild läuft?

Müller: Den Müller habe ich natürlich auch gesehen, in ein paar Vorschauen. Aber komplett muss ich mir das nicht unbedingt reinziehen. Das Jahr ist super gelaufen, und das wird mir auch immer wieder bewusst gemacht, selbst wenn ich es mal vergesse; ich kann dem ja nicht mehr aus dem Weg gehen. Aber es ist jetzt vorbei. Ich kann mir dafür nix mehr kaufen. Jetzt muss ich mich neu beweisen.

SZ: Was tauchte in Ihrem persönlichen Rückblick auf 2010 an Silvester auf?

Müller: Schon die WM. Aber es gab für mich nicht diesen einen Moment, es waren ja wahnsinnig viele tolle Momente.

SZ: Sie haben ja erst vor knapp zehn Monaten im Nationalteam debütiert, in München gegen Argentinien.

Müller: Ja, das war speziell. Als ich die Nationalhymne hörte, dachte ich schon: Jetzt habe ich es geschafft, jetzt bin ich wirklich da, wo ich hinwollte - (Eine deutsche Touristin höheren Alters tritt an den Tisch und will ein Autogramm. Müller bittet um Verständnis, dass er jetzt nicht kann, später gerne) - Tja, seit der WM erkennen einen auch diejenigen, die sich nicht so im Fußball auskennen.

SZ: Nur ältere Damen?

Müller: Nee, nee, es sind schon alle Jahrgänge dabei.

SZ: Hat denn nun wenigstens Ihre Oma Ruhe, die Sie nach dem Achtelfinale gegen England am Fernsehen grüßten?

Müller: Mittlerweile schon. Das Problem war ja, dass meine Eltern, meine Oma und die Leute bei uns in Pähl natürlich keinen Medienmanager hatten wie wir bei Bayern oder beim DFB. Aber über die Weihnachtszeit war ich mal wieder daheim, da war alles schön ruhig.

SZ: Menschen, die Sie gut kennen, sagen: Der Müller, der hebt nicht ab, auch jetzt nicht, der fährt auch noch nicht Ferrari. Haben Sie keinen Spleen? Und wie belohnen sie sich nach so einem Jahr?

Müller: Das habe ich mich auch mal gefragt. Wir haben einen super Sponsor, also brauche ich schon mal keinen neuen Wagen. Aber ich geh' schon mal an Uhrengeschäften vorbei, doch dann sehe ich, dass die manchmal richtig teuer sind. Dann lass' ich es lieber, das ist es mir dann doch nicht wert. Ich bin auch kein Paradiesvogel, der sich die Haare färbt. Meine Frau reitet, das ist jetzt für uns wichtig geworden. Ansonsten habe ich im Grunde doch wirklich alles. Ich müsste mir meine Probleme schon selbst machen, damit ich welche hätte.

SZ: Reiten Sie selbst?

Müller: Ich habe es vor anderthalb Jahren mal ausprobiert. Tja, ich bin zwar nicht direkt runtergefallen, aber das Pferd hat mir danach leid getan. Das Risiko ist mir für mich und das Pferd zu groß.

SZ: 2011 hat für Sie gleich mit dem Verlust eines Titels begonnen: Sie haben nicht mehr die dünnsten Beine.

Müller: Sie meinen wegen Luiz Gustavo? Naja, wir haben die Oberschenkel noch nicht gemessen, aber das kann schon sein. Über meine Beine wird immer geflachst, ich weiß, das war schon immer so. Aber keine Sorge, meine Mutter hat früher schon festgestellt, dass da wenig kaputt geht. Für mich waren sie nie ein Problem, ich finde sogar, dass sie mir geholfen haben, schon in der Jugend. Denn wenn du nicht nur deinen Körper hast, mit dem du dagegenhalten kannst, musst du eben auch dein Gehirn einschalten, für gewisse Laufwege, um dem direkten Zweikampf aus dem Weg zu gehen.

SZ: Ist so dieser Drang entstanden: Müller geht in die Spitze, dorthin, wo plötzlich auch der Ball auftaucht?

Müller: Gewisse Dinge sind sicher trainierte Automatismen. Aber oft ist das schon ein gewisser Instinkt, ein Gefühl für die Räume. Ich bin froh, diese Fähigkeit zu haben.

"Ich würde Müller hinter die Spitzen stellen"

SZ: Es fällt jedenfalls schwer, Ihre Art mit einem anderen Spieler zu vergleichen. Kennen Sie vielleicht einen?

Müller: Nein, irgendwie bin ich schon ein Unikat. Es gibt Dribbler, die sich ziemlich ähnlich sind, auch Stürmer, aber was bin eigentlich ich?

SZ: Ja, was ist Müller?

Müller: Hm. Tja, was bin ich? Raumdeuter? Ja, ich bin ein Raumdeuter. Das wäre doch eine gute Überschrift, oder?

SZ: Auf jeden Fall. Denn, mit Verlaub, Sie schießen zwar Tore, aber besonders schöne sind selten. Aber Sie sind da.

Müller: Das stimmt, für schöne Tore bin ich nicht bekannt. Aber wichtig ist doch, wenn das Ding drin ist. Mir wurde ja oft Glück nachgesagt, aber wenn es fünfmal hintereinander passiert bei der WM, muss es vielleicht doch einen anderen Grund haben.

SZ: Ihr früherer Amateurtrainer Hermann Gerland sagte mal: Der Müller, der kann 90 Minuten beschissen spielen - aber dann macht der ein Tor.

Müller: Die Aussage ist schon richtig. Ich gehe in meinem Spiel bewusst Risiko ein, ich versuche beim direkten Weg Richtung Tor oft Dinge, die vielleicht von der Idee her super sind, aber schwierig in der Ausführung. Da passieren Fehler, aber du musst dir sagen: Vorbei, nächstes Mal versuche ich es wieder. In Kritiken steht manchmal: Hat viel versucht, aber es ist ihm nichts gelungen. Ja, dann hat es halt mal nicht geklappt. Ich versuche eben viel, und da ist viel Ausschussware dabei. Das weiß ich, und deshalb mache ich mich nicht verrückt.

SZ: Hatten Sie nach der WM den Eindruck, dass sich die Gegenspieler besser auf Ihre unkonventionelle Art einstellten?

Müller: Eigentlich nicht. Die Hinrunde lief ja auch etwas anders, ich spielte hauptsächlich rechts oder links. Es ist halt insgesamt nicht gut gelaufen für die Mannschaft, da konnte sich kein Einzelspieler vom Trend lösen, auch ich nicht.

SZ: Ihre Rollen wechseln häufig. Wo würden Sie Müller spielen lassen?

Müller: Ich würde Müller hinter die Spitze stellen, das ist die Position bei Bayern, die näher am gegnerischen Tor und damit auch gefährlicher ist. Von dort kann ich besser in die Lücken stoßen. Rechts und links musst du die Position taktisch disziplinierter halten, und die Position sieben bei der Nationalelf ist ja noch mal ein anderes Rechts als bei Bayern, weil beim DFB mit Mesut Özil der Seitentausch immer da ist. Ich brauche schon ein bisschen Freiheit, dass ich mal links oder rechts auftauchen kann. Deshalb sehe ich mich schon hinter der Spitze auf der Zehn. Aber ich bin vielseitig und erfülle auch gern andere Aufgaben.

SZ: Van Gaal sagte vorige Saison: Müller spielt bei mir immer. Hat dieses Vertrauen Ihren Aufstieg erst ermöglicht?

Müller: Die Aussage hätte er gar nicht machen brauchen. Denn bei mir war immer das Gefühl da, dass er auf mich baut.

Die letzten Zuckungen

SZ: Wie haben Sie das bemerkt, sein Vertrauen? Vor einem Jahr hieß es noch, einige Spieler hätten Angst vor van Gaal.

Müller: Ach, so wie er rede ich ja auch ganz gern. Er will gewisse Reibung erzeugen, deswegen bevorzugt er seine Art des Austauschs. Ich mag seine direkte Art sehr gerne, da sind wir uns ähnlich.

SZ: Sie, aber auch andere Spieler haben sich in den kritischen Herbstwochen ungewöhnlich offensiv für den Trainer ausgesprochen. Aus Dankbarkeit?

Müller: Nein, es gab da unter uns keine Absprache, aber jeder hat, glaube ich, ganz bewusst den Trainer gestärkt. Sie hätten jeden Spieler einzeln unabhängig voneinander befragen können, und jeder hätte Ihnen gesagt, wie sehr er von ihm und seiner Philosophie überzeugt ist. Natürlich gibt es in einem 25er-Kader Unzufriedenheit von Spielern, die mal nicht spielen. Aber selbst solche Kollegen wie Hamit Altintop oder sogar Martin Demichelis haben trotzdem positiv über den Trainer geredet. Und wenn Sie mal sehen, was hier in Doha im Trainingslager passiert, wie Gas gegeben wird: Diese Mannschaft arbeitet sehr gerne mit diesem Trainer zusammen.

SZ: Hatten Sie keine Sorge, als Präsident Hoeneß scharfe Kritik übte und es eng um den eigenwilligen Trainer stand?

Müller: Eigentlich nicht, und nach der Vertragsverlängerung hatte ich dann auch das Gefühl, dass die Vereinsführung auf ihn baut. Darüber waren wir alle sehr froh, und auch den Trainer hat es gefreut, dass er die Unterstützung der gesamten Mannschaft hatte. Deshalb gab es zwischen Spielern und Trainer nie einen Knacks, von dem gesprochen wurde.

SZ: Dann müssten Sie van Gaal eigentlich überreden, ähnlich lange zu bleiben wie Sie und die anderen, die jetzt so langfristige Verträge unterzeichnet haben.

Müller: Ich denke, wenn es hart auf hart kommt, kann man da vielleicht was machen. Allerdings schlaucht das hier in München sicher mit dem Druck, und ich glaube nicht, dass man zehn Jahre Trainer von Bayern sein kann, ohne gesundheitliche Schäden davonzutragen.

SZ: Sie sind mit 21 Jahren Teil der Generation Lahm/Schweinsteiger, die allmählich die Generation Ballack ablöst. Welche Unterschiede gibt es?

Müller: Fußballerisch ist das sicher ein Niveau. Ich denke aber, auch ein Michael Ballack hat als junger Spieler mal andere Zeiten erlebt, in denen es schwerer war, sich in Mannschaften zu integrieren. Es gibt jetzt doch viele junge Trainer, die ihre Philosophie einbringen, mit einer flacheren Hierarchie. Das macht es uns jungen Spielern heute vielleicht einfacher.

SZ: Mit 21 haben Sie schon sehr viel erreicht. Was soll da noch kommen?

Müller: Ich möchte mich festbeißen, auf ganz hohem Niveau. Ich will in zehn Jahren sagen, ich habe ein Jahrzehnt immer ganz oben gespielt, und mein Körper hat's ausgehalten, und mein Kopf zum Glück auch. Das ist mein Hauptziel.

SZ: Dann reisen Sie 2022 wieder nach Katar, zur Wüsten-WM?

Müller: Ja, nach der Wahl habe ich das für mich sofort fest angepeilt. Das könnten dann die letzten Zuckungen bei mir auf dem Niveau werden. Aber bis dahin kommen noch ein paar harte Winter.

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