Schwedens Stürmer Zlatan Ibrahimovic:Plötzlich Sozialdemokrat

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Vom exzentrischen Proll zum Teamplayer: Schwedens Ausnahmekönner Zlatan Ibrahimovic zeigt beim irren Remis gegen Deutschland überraschende Tugenden, die so von ihm nicht zu erwarten waren. Er kämpft, gibt den Anführer - und animiert sein Team zur unvergesslichen Aufholjagd von Berlin.

Boris Herrmann

Es lief die 62. Minute im denkwürdigen WM-Qualifikationsspiel von Berlin. 4:0 stand es zwischen berauschten Deutschen und bemitleidenswerten Schweden, als Zlatan Ibrahimovic endlich auch einmal eine Kleinigkeit zu dieser Veranstaltung beizutragen hatte. Er köpfelte eher beiläufig ins Tor, 1:4. Außer ihm selbst schien das kaum jemanden zu interessieren. Das Publikum im Olympiastadion reagierte mit einer Gelassenheit, die nichts anderes ausdrückte als: Mein Gott, dann gewinnen wir eben 6:1 statt 6:0.

Unterwegs im Dienste der Mannschaft: Zlatan Ibrahimovic (rechts) trägt den Ball höchstselbst zurück zum Anstoßpunkt. Die Folge: Schweden nutzt jede Sekunde bis zum 4:4-Endstand.  (Foto: dpa)

Die deutsche Mannschaft sah das - fatalerweise - wohl ganz ähnlich. Und selbst Ibrahimovics schwedische Kollegen räumten später ein, die historische Dimension dieser 62. Minute verkannt zu haben. Mittelfeldspieler Rasmus Elm sagte: "Beim 1:4 dachte ich, ach schön, ein Ehrentreffer." Jeder normal denkende Mensch wusste, es war eigentlich nichts passiert - abgesehen von einem kleinen Trostpreis für eine heillos unterlegene Mannschaft.

Dass Ibrahimovic, 31, kein normal denkender Mensch ist, hat keinen Neuigkeitswert. In den Sekunden nach seinem Kopfballtor war das aber so gut zu beobachten wie selten. Da fischte er sich tatsächlich den Ball aus dem Tor von Manuel Neuer und trug ihn strammen Schrittes zum Mittelkreis. Nach einem Anschlusstreffer zum 1:2 in der 89. Minute kommt so etwas häufiger vor. Die Geste soll signalisieren: Männer, da geht noch was! Wer das aber beim 1:4 macht, in einem Spiel, in dem bislang aber wirklich gar nichts ging, der ist entweder wahnsinnig selbstbewusst. Oder einfach nur wahnsinnig. Für Ibrahimovic gilt mit großer Wahrscheinlichkeit beides.

Verrückte Fußballspiele
:"Ein Remis wird zur Königin Mutter aller Niederlagen"

Ein Jahrhundertspiel, leere Gesichter in Barcelona und ein 5:5 in der 2. Liga: Die Historie schmückt eine ganze Reihe von unfassbaren Fußball-Begegnungen. Oftmals standen spektakuläre Comebacks im Mittelpunkt - einmal brach Oliver Kahn einem Kollegen sogar die Nase vor Freude.

"Irgendetwas ist passiert durch dieses 4:1", stellte Schwedens Trainer Erik Hamren fest. Was genau das war, darüber konnte auch er nur Vermutungen anstellen. Am plausibelsten erschien ihm diese Erklärung: "Zlatan hat die anderen gecoacht."

Es kursieren ja so viele herrliche Geschichten über diesen hochbegabten Egomanen, der in Malmös Problemviertel Rosengard aufwuchs und es vom notorischen Fahrraddieb zu einem der bestbezahlten Fußballer der Welt brachte; der für insgesamt 170 Millionen Euro durch die Gegend transferiert wurde und bereits für sechs verschiedenen Vereine in der Champions-League getroffen hat (für Ajax, Juve, Inter, Barcelona, Milan sowie für seinen aktuellen Klub Paris St. Germain). Bei Ibrahimovic weiß man nie, worüber man zuerst staunen soll, über seine Tore oder seine Skandale.

Am vergangenen Freitag soll er im Kabinengang versucht haben, Frodi Benjaminsen, den Kapitän der Färöer, zu würgen. Man kann die Leute längst nicht mehr zählen, die er in seiner Karriere öffentlich beleidigte. In Barcelona hinterließ er die legendäre Unfreundlichkeit: "Diesen Philosophen brauchen wir hier nicht. Der Zwerg und ich reichen." Mit dem Philosophen war der damalige Trainer Pep Guardiola gemeint. Mit dem Zwerg Lionel Messi. Im Grunde muss man über Zlatan Ibrahimovic nur wissen, dass er zu fast allem fähig ist. Bloß dass er auch zum Spielertrainer taugt, das ist wirklich neu.

DFB-Elf in der Einzelkritik
:Schockstarre nach der Gemütlichkeit

Marco Reus macht Thomas Müller neidisch, Per Mertesacker verkürzt seinen Rückstand auf Gerd Müller auf 66 Tore, leitet aber den späten Ausgleich ein. Jérôme Boateng nutzt den zunächst gemütlichen Abend zum Flankenschlagen, bevor sein Einsatz doch noch in Arbeit ausartet. Die DFB-Elf beim 4:4 gegen Schweden in der Einzelkritik.

Christof Kneer und Philipp Selldorf

In der Pause hielt er, beim Stand von 0:3, eine "motivierende Ansprache", wie Hamren bezeugte. Und tatsächlich trugen die eben noch völlig desorientierten Schweden auch nach dem 2:4 durch Mikael Lustig (65.) und dem 3:4 durch Johan Elmander (76.) den Ball eifrig zurück zum Anspielpunkt. Der Wahnsinn nahm immer konkretere Formen an. Er gipfelte im letzten Schuss des Spiels, mit dem Ausgleichstreffer von Rasmus Elm.

Die Zeitung Dagens Nyheter legte sich sogleich fest: "Das war der größte Kracher der schwedischen Sportgeschichte." Und Zlatan Ibrahimovic, der als Erster und Einziger an diesen Krachen geglaubt hatte, erzählte: "Ich habe in einer Mannschaft noch nie etwas Ähnliches erlebt." In der großen Sensation steckte mithin eine mindestens mittelgroße Überraschung. Der Mann, der immer nur "Ich, Zlatan" sagte, sagt plötzlich: "Wir!"

Hamren hat Ibrahimovic nach einem zwischenzeitlichen Abschied aus der Nationalelf zum Kapitän ernannt. Bislang gab es keine Anzeichen, dass er dieses Amt als Aufgabe begreift - eher als natürliche Auszeichnung. Von flachen Hierarchien hält er schließlich so wenig wie Joachim Löw von hohen Bällen. In Berlin aber war (auch zur Verwunderung seiner Landsleute) ein anderer Ibrahimovic zu sehen. Einer, der sich geradezu sozialdemokratisch gab. Seine beste Szene hatte er kurz von dem Ende der regulären Spielzeit, beim Stand von 3:4.

Stimmen zum 4:4
:"Ich war so müde!"

Die Schweden sprechen von einem historischen Abend - obwohl der Schütze zum 4:4 eigentlich zu müde war, um noch nach vorne zu laufen. Die deutschen Spieler dagegen versuchen zu erklären, was eigentlich nicht zu erklären ist.

Der eingewechselte Tobias Sana, 23, war in seinem ersten Länderspiel gerade frei vor dem deutschen Tor zum Schuss gekommen - und hatte vor Aufregung in Richtung Kreuzberg gezielt. Einige Schweden stießen Verwünschungen aus, das war sie wohl, die letzte, große Chance zum Ausgleich. Ibrahimovic aber ging auf Sana zu und streichelte ihm zärtlich den Kopf. Ganz so, als wollte er sagen: Kein Problem, Kleiner, es gibt auch noch eine Nachspielzeit. Und die reicht allemal, um den Wahnsinn abzurunden.

© SZ vom 18.10.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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