Russland:Fußballer des Volkes

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Wegbereiter des russischen Fußballs: Die Bronze-Plastik der Starostin-Brüder während der WM im Spartak-Stadion in Moskau. (Foto: Yuri Cortez/AFP)

Die Brüder Alexander, Andrej, Nikolaj und Pjotr Starostin haben Spartak Moskau gegründet, den Verein zu Erfolgen geführt und gelten heute als Legenden ihres Sports in Russland. 1942 wurden sie dennoch zu Lagerhaft verurteilt.

Von Julian Hans, Moskau

Als am vergangenen Samstag die russische Mannschaft im Viertelfinale den Kroaten unterlag, da waren sich alle einig: Wir sind ausgeschieden, aber Russland ist als Fußballnation neu geboren. Noch vor wenigen Wochen hatte in Umfragen nicht einmal jeder Zweite erklärt, er werde sich die Spiele ansehen. Nun, nach dem überraschenden Erfolg beim Turnier im eigenen Land, ist Russland ein Land mit 140 Millionen Nationaltrainern.

Kaum einer erinnerte indes daran, dass fast auf den Tag genau vor 82 Jahren schon einmal eine Großveranstaltung den Fußball im Land populär machen sollte. Am 6. Juni 1936 trat auf dem Roten Platz die erste Mannschaft des Vereins Spartak gegen die zweite Mannschaft an. Es war ein abgesprochenes Spiel, um Josef Stalin für den Fußball zu begeistern. Frauen und Kinder hatten in nächtelanger Arbeit eigens einen riesigen Teppich genäht, der als eine Art improvisierter Kunstrasen über das Pflaster gelegt wurde. Das Lenin-Mausoleum wurde zur VIP-Lounge für Stalin und seine engsten Begleiter umgebaut. 75 000 Athleten marschierten an ihnen vorbei bei der großen Sportparade der Sowjetunion.

Die Spieler waren darauf vorbereitet, jeden Moment abzubrechen, sollte der "beste Freund der Sportler" die geringsten Anzeichen von Missfallen zeigen. Aber Stalin gefiel der Fußball. Das rettete jedoch weder Spieler noch Manager vor der Verfolgung durch seinen Geheimdienst. Als die Mannschaft ein Jahr später nach zwei gewonnenen Spielen in Antwerpen und Paris von einer Auslandsreise nach Moskau zurückkehrte, war die Stimmung umgeschlagen. In sowjetischen Zeitungen erschienen Artikel darüber, dass bei Spartak Geld verschwendet würde, dass die Spieler gar nicht wirklich Amateure seien, sondern Geld verdienten. Was nicht zur Propaganda vom Arbeitersportler passte, der nebenher noch in der Fabrik seine Norm erfüllte.

1936 und 1937 verhaftete die Geheimpolizei NKWD elf Personen aus der Spartak-Führung. Unter Folter gestanden die Männer, einen Anschlag auf Stalin geplant zu haben. Scharfschützen sollten ihn angeblich während der Mai-Parade vom Dach des Kaufhauses Gum aus erschießen. Der Plan sei nur gescheitert, weil die Waffen nicht rechtzeitig besorgt werden konnten. Anführer der Verschwörung sei Nikolaj Starostin gewesen, der den Verein 1935 zusammen mit seinen drei Brüdern Alexander, Andrej und Pjotr gegründet hatte. Die Vier wurden 1942 ebenfalls verhaftet und zu jeweils zehn Jahren Lager verurteilt. Nach drei Jahren begnadigte Stalin Nikolaj Starostin, seine Brüder mussten die volle Strafe absitzen.

Nach Stalins Tod wurden die Brüder wegen ihrer sportlichen Erfolge noch zu Sowjetzeiten zu Legenden des russischen Fußballs. Heute steht eine Bronze-Statue der Vier hinter dem Tor im Moskauer Spartak-Stadion. Als die Fifa zum Confed-Cup durchsetzen wollte, dass die Plastik entfernt wird, widersetzte sich der Verein.

Was die Hintergründe der Verfolgung waren, blieb indes lange Zeit unklar. Schätzungen zufolge wurden während der Jahre des großen Terrors zwischen 1936 und 1938 etwa eine Million Menschen hingerichtet. Oft ist nicht nachvollziehbar, warum es den einen traf und der andere davonkam. Die Organisation Memorial, die sich der Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit verschrieben hat, hat anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft die Vorgeschichte des Falls erforscht. Im Juni gab der russische Geheimdienst FSB als Nachfolger von NKWD und KGB die ersten zwei Bände aus den Akten über die Brüder Starostin frei.

Eine Erklärung für die Repressionen gegen die Starostins und die Männer aus ihrem Umfeld sei schon immer die Rivalität zwischen Spartak und Dynamo gewesen, sagt der Historiker Sergej Bondarenko von Memorial. Dynamo war der Verein des NKWD und der Polizei und Spartak der Verein der Gewerkschaften und des Komsomol. "Spartak wurde als Verein des Volkes begriffen, anders als ZSKA, der Klub der Armee, und Dynamo, der Klub der Polizei", erklärt Bondarenko. Darüber hinaus habe es eine persönliche Rivalität zwischen dem NKWD-Chef Lawrenti Beria und den Starostins gegeben.

Beria war Fußballfan. Als NKWD-Chef war er sogar so etwas wie der Klubpräsident von Dynamo. "Beria besuchte die Spiele, er entschied über das Geld, das dem Klub zugeteilt wird. Man könnte sagen, er war so etwas wie der Präsident des Vereins", erzählt Bondarenko. In ihren Memoiren berichteten die Starostins darüber, dass Beria sich sehr geärgert habe, wenn Dynamo verlor.

Und besonders geärgert haben muss sich der Georgier Beria über die Niederlage von Dynamo Tiflis gegen Spartak im Halbfinale der sowjetischen Meisterschaft 1939. Spartak gewann auch das Finale und wurde Meister. Zwei Wochen später wurde entschieden, dass das Halbfinale wiederholt werden muss. Die Starostins versuchten herauszufinden, was die Ursache war. Die Wiederholung sei zu einem Spiel mit politischem Subtext geworden, sagt der Historiker. "Als wäre es ein Spiel Fußball gegen die Politik. Viele Zuschauer fassten das so auf, als verteidige der Sport seinen Status eines Bereichs, der von der Politik nicht beeinflusst wird." Spartak gewann 3:2. Im Kräftemessen zwischen der Gesellschaft und dem Staat gewann das Volk.

In den Aufzeichnungen der Verhöre, die nun freigegeben wurden, kommen diese Motive nicht vor. Ein Grund dafür, dass die Starostins nie darüber gesprochen haben, was ihnen wirklich vorgeworfen wurde, könnte sein, dass ihnen die Vorwürfe trotz allem unangenehm waren, vermutet Bondarenko. In gewisser Weise seien sie das heute noch. Der Vorwurf etwa, sie hätten darauf gehofft, dass die Deutschen dem Stalin-Regime ein Ende bereiten. "Tatsächlich hatten aber in der Sowjetunion viele Menschen diese Hoffnung. Sie hatten gerade erst Stalins Terror erlebt, den Terror der Deutschen kannten sie noch nicht. Das kann man bis heute nicht öffentlich sagen, ohne dafür verurteilt zu werden. Auch wenn es im Kontext der Zeit nachvollziehbar ist", sagt Bondarenko.

© SZ vom 12.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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