Deutsche Nationalelf:Siege zählen mehr als Kunst

Einen derartigen Einbruch wie am Dienstagabend in Berlin hat eine deutsche Elitemannschaft noch nicht erlebt. Er führt direkt hinein in den Kulturbruch, der sich im vergangenen Jahrzehnt im deutschen Fußball vollzogen hat. Hinein in die Wohlfühl-Debatte, die Tischtennisplatten-Debatte, die Verwöhnte-Jungs-Debatte.

Thomas Hummel

Dieses absurde Spiel gegen Schweden ist der Beweis dafür, dass sich im vergangenen Jahrzehnt ein Kulturbruch im deutschen Fußball vollzogen hat: Hieß es nicht einmal, dass man die Deutschen nie abschreiben dürfe? Sich nie sicher sein dürfe, selbst wenn man 3:1 in der Verlängerung gegen sie führt? Dass es kommen kann, wie es will, am Ende gewinnen eh immer die Deutschen?

Diese Weisheiten sind wie weggewischt. Sie haben sich fast umgekehrt. Jetzt können sich die Deutschen nicht mehr sicher sein, selbst wenn sie nach 60 Minuten im eigenen Stadion mit 4:0 führen. Unter diesem Eindruck muss die Nationalelf im Rückblick froh sein, dass die Iren ihr 1:6 am Freitag erst in der Nachspielzeit erzielt hatten.

Einen derartigen Einbruch wie am Dienstagabend in Berlin hat eine deutsche Elitemannschaft noch nicht erlebt. Und er führt direkt hinein in diesen Kulturbruch. Hinein in die Wohlfühl-Debatte, die Tischtennisplatten-Debatte, die Verwöhnte-Jungs-Debatte.

Die alte Generation im deutschen Fußball hegt ja schon lange ihr Misstrauen gegen diese Ansammlung von Künstlern und Kick-Poeten. Waren nicht das genau die Mannschaften, die sie früher zur Not brachial aus den Schuhen traten, auf jeden Fall aber grimmig in die Knie zwangen? Mannschaften mit viel mehr Talent, denen man den Schneid abkaufte, um sie am Ende auszulachen?

Das Spiel gegen Schweden zeigte schonungslos die Vor- und Nachteile der aktuellen deutschen Mannschaft. Eine Stunde lang kombinierten sich die deutschen Akteure in rasendem Tempo über das Feld, verblüfften selbst langjährige Kritiker mit ihrem Geschick. So etwas hatte man nicht einmal von den Brasilianern oder Spaniern gesehen.

Doch dann: Sorglosigkeit, Nachlässigkeit, keine Bereitschaft, auch die dreckigen Dienste dieses Spiels zu leisten. Fast paralysiert von dem Umstand, dass diese völlig unterlegenen Schweden aufmüpfig wurden. Und ihnen plötzlich hilflos ausgeliefert. Diese neue Spielergeneration, zu der auch eine neue Trainergeneration gehört, hat den deutschen Fußball zuletzt mit Siebenmeilenstiefeln vorangebracht.

WM-Qualifikation - Deutschland - Schweden

Drei Monate später, ähnliches Bild: Dereinst verzweifelte Philipp Lahm neben Mario Balotelli, diesmal neben Rasmus Elm.

(Foto: dpa)

Zu der perfekten technischen und körperlichen Ausbildung gesellen sich Taktikschulungen, Gegneranalysen und das Vertrauen auf Experten wie Urs Siegenthaler. Das macht die Deutschen zu einer der besten drei Mannschaften der Welt. Im Normalfall. Denn was immer mal wieder fehlt, ist die emotionale Fähigkeit, auf Rückschläge zu reagieren, auf unvorhersehbare Ereignisse, auf unerwarteten Widerstand. Geht Plan A nicht auf, dann kommen scheinbar alle durcheinander. Das ist die Geschichte des verlorenen EM-Halbfinals gegen Italien, das ist die Geschichte dieses 4:4 gegen Schweden.

Allerdings betrifft das nicht nur die Spieler, sondern auch Bundestrainer Joachim Löw. Auch er ist den Nachweis schuldig, in schwierigen Situationen ein Spiel von außen entscheidend beeinflussen zu können. Und sei es durch eine simple Auswechslung in der Nachspielzeit, um die verbliebenen Sekunden runterzuspielen.

Löw sprach in Berlin von einer Lehre "für alle Zeiten", die aus diesem 4:4 gezogen werden müsse. Spieler sprachen von einem Lernprozess und einem Lernspiel. Doch kann man eine Mentalität überhaupt erlernen? Die Mentalität der alten, deutschen Fußball-Generationen. Man hätte im Nachklang dieser Partie auch die ersten 60 Minuten feiern können, diese Mannschaft und ihren Trainer in Hymnen besingen für ihre wundervolle, einzigartige, spektakuläre Darbietung. Doch sie kommen aus einem Kulturkreis, in dem Siege mehr zählen als Kunst.

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