100. Tour de France:"Wir fahren mit Dynamit"

Mountain Stage

Rastlos bergauf, über steile Wege aus Geröll: Teilnehmer der Tour de France im Juli 1951.

(Foto: Bert Hardy/Getty)

Die Tour der France ist seit jeher ein unlauterer Überlebenskampf, eine kranke Geldmaschine. Schon immer dopten die Sportler - auch um das Rennen überhaupt erträglich zu machen. Mutige Pioniere haben sich dagegen aufgelehnt, ohne Erfolg. Auch 2013 haben die Veranstalter eine nie dagewesene Härteprüfung im Programm.

Von Andreas Burkert, Porto Vecchio

Von diesem historischen Tag existieren noch Schwarz-Weiß-Fotos, die französische Sportzeitung L'Équipe hat sie vor zehn Jahren abgedruckt in ihrem dreiteiligen Band "Tour de France, 100 ans, 1903 - 2003", einem unerschöpflichen Kompendium über die damals hundertjährige Geschichte der Frankreich-Rundfahrt: eine kiloschwere Schwärmerei mit einigen Hundert Seiten, historischen Artikeln und Anekdoten, die den Mythos des größten Radrennens der Welt bündeln - und zwangsläufig auch jene Tragik, die es begleitet, eine Seuche wie ein Krebsgeschwür. Ein Geschwür, das schon immer dagewesen ist, ganz offenbar.

Das Foto also: Es ist eine Aufnahme aus dem Café de la Gare im Normandie-Städtchen Coutances, vom 27. Juni 1924. Am Fenster, vor weißen Rüschengardinen, sitzen die Brüder Henri und Francis Pélissier sowie Maurice Ville, drei französische Volkshelden jener Zeit. Henri Pélissier hat 1923 die Tour gewonnen, nun hockt er desillusioniert da in seiner Rennmontur, die Ersatzschläuche um die Schultern. Sie trinken heiße Schokolade und ihr Blick zeugt von Müdigkeit, von der Qual der Tour, aber auch von einem gewissen Stolz. Wegen der Revolution, die ihre soeben unter Protest erfolgte Aufgabe des Rennens bedeutete, ebenso ihre Anklage, die sie gegenüber dem Reporter vom Petit Parisien, Albert Londres, vorgebracht haben.

Ihm berichten sie vom unmenschlichen Martyrium, welches die Tour bedeute für die Fahrer - ehe Pélissier an diesem Julitag 1924 ein Tabu bricht: Er offenbart den grassierenden Dopingbetrug.

An diesem Samstag feiert die Tour de France wieder Jubiläum, auf Korsika wird mittags die 100. Ausgabe der Grande Boucle gestartet. Die französische Nation ist deshalb mal wieder ganz besonders stolz, daran ändern die alten Geschichten nichts. Die Bilder von früher, die Episoden vermeintlicher Heroen im Sattel, die der Zeitzeuge Albert Londres in einem Reportage-Band "Strafgefangene der Landstraße" (Covadonga, 2011) nennt - sie werden drei Wochen gegenwärtig sein. In verklärten Blicken auf ein Metier, das trotz des weit verbreiteten Pharmabetrugs im gesamten Profisport damit leben muss, ein Pionier der Manipulation zu sein. Die Betrugs- mentalität des Radsports, das ist traurige Wahrheit, ist älter als 100 Jahre.

Zu seiner Aufgabe bei der 21. Tour de France fragt also der Reporter Londres im Café de la Gare den Fahrer Henri Pélissier: "War es eine Entscheidung aus dem Bauch?" - "Das nicht", entgegnet der, "wir sind nur keine Hunde!" Er erklärt, dass ihm ein Kommissär beim Start wortlos unters Trikot gegriffen habe; er wollte wissen, ob Henri verbotenerweise ein zweites Hemd drunter trug. "Wir müssen nicht nur kämpfen wie die wilden Tiere, sondern auch vor Kälte zittern oder in der Hitze ersticken!", sagt Pélissier. "Sie haben ja keine Vorstellung davon, was die Tour de France ist, sie ist ein Leidensweg. (. . .) Wollen Sie sehen, womit wir fahren . . .?"

Henri Pélissier greift in seinen Beutel mit den Ampullen: "Das ist Kokain für die Augen, und dies hier ist Chloroform für das Zahnfleisch. (. . .) Dürfen es auch ein paar Pillen sein?" Alle drei holen welche aus ihren Beuteln, und Francis sagt: "Wir fahren mit Dynamit!"

1886 der erste Dopingtote

Der Radsport, die Tour, sie haben den Einsatz leistungsfördernder Mittel nicht erfunden. Schon in der Antike griffen Athleten ja zu einer Art Testosteron-Doping: Stierhoden. Im Pferdesport lagen da bereits Opium und Narkotika im Trend. Im späten 19. Jahrhundert übernahmen Radfahrer jedoch die Rolle des Gladiatorentums. 1875 fand in Birmingham das erste Sechstagerennen statt, gefahren wurde fortan im Holzoval: rund um die Uhr, sechs Tage lang. Schnaps, Zaubertränke aus Koffein, Heroin, Nitroglyzerin und anderen Geheimsubstanzen - anders war das aberwitzige Pensum gar nicht zu schaffen.

1886 beklagte der Radsport den ersten Dopingtoten, der Engländer Arthur starb beim Rennen Bordeaux - Paris an einer Überdosis Trimethyl. Der Wettbewerb auf zwei Rädern geriet von Beginn an zum Sport der Exzesse. Die ersten Straßenrennen waren nicht selten länger als 600 km. Wobei es sich weniger um Straßen handelte. Sondern um unbefestigte Geröllwege.

Und die Tour 1924, bei der die Pélissiers streikten? 15 Etappen, 5425 km. Der kürzeste Abschnitt, Nizza - Briancon, war 275 km lang. Die Tour-Premiere führte 1903 über 2428 km - zurückzulegen an sechs Tagen. Die Sportzeitung L'Auto, Vorgängerin von L'Équipe, veranstaltete das Etappenrennen als PR-Maßnahme, das tatsächlich viel Aufmerksamkeit erregte und die Auflage steigerte. So begann die Tour der Leiden. Als unlauterer Überlebenskampf. Eine kranke Geldmaschine.

Es hat eine Weile gedauert, bis das große Publikum begriff, was da wirklich vor sich ging. Dass die Profis, deren Grimassen des Schmerzes, das Archaische ihres Alltags, die Leute faszinierten, nicht nur mit Wasser und Brot die Höllenqualen überstanden. Sondern auch dank Chemie und Pharmazie. Dabei hat das Rennen früh und immer wieder erhellende Bilder produziert, von surrealen Bergsprints oder eben kollabierenden Fahrern, die von der Wahrheit kündeten. Wie jener Zusammenbruch des Bretonen Jean Malléjac, der bei der Tour 1955 als Klassement-Achter plötzlich mit dem Leben rang im Anstieg des Provence-Giganten Mont Ventoux.

Rennarzt Pierre Dumas, der sich seines Hemds entledigte, kniete vor dem reglosen Malléjac, vor dem mit Amphetaminen vollgepumpten, zur verkrümmten Fratze entstellten Körper. Mit Wasser und Herzmassagen vertrieb er den Tod.

Dumas sah viel in seinen fast zwei Jahrzehnten als Tour-Doktor: Morphium-Spritzen in Oberschenkeln, die Roulette-Spiele der mit ihren ganz speziellen Flakons jonglierenden soigneurs, der berüchtigten Pfleger des Radsports. 1967 war er machtlos. Wieder der Mont Ventoux, die sengende Hitze über dem steinernen Koloss. Der britische Mitfavorit Tom Simpson stirbt. Aufputschmittel, auch bei ihm, er dehydrierte. Doktor Dumas' Mund-zu-Mund-Beatmung rettete ihn nicht.

Simpson, 29, der erste Tote der Tour, hat Massen an Dopingmitteln dabei gehabt. "Tom fuhr zur Tour mit einem Koffer für seine Kleidung und einem zweiten für sein ganzes Zeug", berichtete später sein Teamkollege Alan Ramsbottom.

Ein Hoch auf die Tour?

Tom Simpson ist ein Symbol der kranken Tour. Wie der große Skandal 1998, dessen Sünderliste soeben um Frankreichs einstiges Idol Laurent Jalabert ergänzt worden ist. Wie 2006 der Puerto-Eklat um Jan Ullrich und den Dopingarzt Fuentes, die Überführung des späteren Gesamtsiegers Floyd Landis; Michael Rasmussens erzwungene Flucht aus dem Gelben Trikot 2007, Alexander Winokurows Blutdoping; wie die Enthüllungen zum Team Telekom respektive T-Mobile, das nur Stunden nach dem spektakulärem Tour-Ausschluss des Kapitäns Ullrich zum Blutaustausch in die Uni Freiburg fährt. Und so weiter: Die Tour 2008 mit den Sündern Riccò, Schumacher, Kohl; der Positivtest von Toursieger Alberto Contador 2010. Schließlich: Lance Armstrongs Überführung als Rekordsieger der Doper, die mutigen Beichten überführter Kronzeugen wie Landis oder Tyler Hamilton.

Glückwunsch, ein Hoch auf die Tour?

Es heißt, die Tour sei größer als alles andere, und vielleicht ist genau das ein Problem, auf das schon Henri Pélissier hinwies. Sie werden nun Simpson zeigen, das kann sein. Aber werden sie den Visionär Pélissier rühmen, diesen verzweifelten Ankläger und Enthüller? Schon das originale Tour-Organ L'Auto zog ja 1924 den Parisien-Reporter Albert Londres und damit auch Pélissier in Zweifel. Londres sei kein Fachmann, hieß es, "er berichtet profan". Seine Artikel "stützen eine These, die unserer widerspricht", schrieb das Blatt.

Nur, das Dynamit, mit dem sie einst die steilsten Rampen hinauffuhren, es blieb und bleibt in Gebrauch. "Gegenwärtig ist ACTH populär, ein Medikament, das die Nebenrinde kitzelt, so dass diese wie verrückt zusätzliche Kortikoide produziert", schrieb der frühere holländische Etappensieger Peter Winnen 1982 in seinen später als "Post aus Alpe d'Huez" (2002) veröffentlichten Briefen. Das Mittel habe leider "hässliche Nebenwirkungen: Infolge eines Wasserstaus bekommt man ein Mondgesicht. Das ist praktisch. Man sieht sie manchmal an der Startlinie stehen, die aufgeschwollenen Kondomköpfe."

Die Kondomköpfe sind seltener geworden, das ist wahr. Aber die Giftmischer sind raffinierter geworden. Und wer Pélissiers Nachfolgern wie Tyler Hamilton oder Jörg Jaksche genau zugehört hat, wer außerdem sieht, wie viel Vergangenheit sich jetzt auch wieder auf Korsika einfindet im Tour-Peloton und in den Verbänden - der mag die junge Generation, aus der nicht wenige den Willen zu einem anderen Weg erkennen lassen, bedauern.

Die 100. Tour wird vermutlich Christopher Froome, 28, gewinnen: ein vor zwei Jahren noch relativ unbekannter Brite, der zwar keinen Kondomkopf trägt, der aber wie sein erstaunlicher Vorgänger Bradley Wiggins eine ganz erstaunliche Entwicklung gemacht hat im erstaunlich dominanten Team Sky. Die Tour gratuliert sich zum Hundertsten übrigens selbst, mit einem Bergfest in L'Alpe d'Huez, das Henri Pélissier boykottieren würde, lebte er denn noch: Die legendären 21 Serpentinen in die Skistation müssen zweimal erklommen werden. Zweimal an einem Tag.

Das gab es noch nie.

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