1:0 gegen Frankreich bei der Fußball-WM:Deutschland im Himmel von Rio

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Gemeinsam stark: die deutsche Mannschaft steht im Halbfinale (Foto: AFP)

Freistoß Kroos, Kopfball Hummels, der Rest ist diszipliniertes Verteidigen: Deutschland erreicht durch ein Tor nach einer Standardsituation das Halbfinale. Beim 1:0 gegen Frankreich schafft Bundestrainer Löw erfolgreich ein dichtes Zentrum - und zeigt, dass er sich von seinen taktischen Prinzipien lösen kann.

Manuel Neuer lief aus dem Tor heraus, ein paar Schritte, ganz überlegt, er hatte jetzt viel Zeit. Der Ball lag vor ihm auf dem Rasen, jede Sekunde, in der er dort liegen blieb, war eine weitere Sekunde auf dem Weg ins Halbfinale. Die Sekunden tickten. Dann schlug Neuer den Ball nach vorne. Sehr hoch. Sehr weit weg.

Der Ball flog Richtung Himmel von Rio de Janeiro, wieder tickten die Sekunden. Wenig später stand Deutschland im Halbfinale der WM in Brasilien.

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Manuel Neuer vermittelt seinen Mitspielern Gefühle von Geborgenheit, Jérôme Boateng erweist sich als wetterfest - und Mats Hummels ist nach überstandener Grippe wieder ein Segen auf dem Platz. Die DFB-Elf beim 1:0 gegen Frankreich in der Einzelkritik.

Von Claudio Catuogno und Philipp Selldorf, Rio de Janeiro

Ein Spiel, das mit Zeitspiel endet, in dem die Spieler am Ende dankbar bei jeder Berührung fallen. Ein Spiel, in dem Bundestrainer Joachim Löw als letzte taktische Entscheidung spät einen Spieler auswechselt. Ein enges Spiel also. Eines, in dem Deutschland eine frühe Führung 77 Minuten lang über die Zeit rettet. Um dann gegen Frankreich 1:0 (1:0) zu gewinnen.

"Das waren zwei Mannschaften auf Augenhöhe. Aber wir haben bravourös gekämpft", sagte Löw.

Wieder ein Standard

Es war auch ein Spiel, das der Bundestrainer geprägt hatte. Nach dem ebenfalls knappen 2:1 nach Verlängerung im Achtelfinale gegen Algerien gab es einige Diskussionen, ob Löw die richtige Aufstellung gewählt hatte. Ausdrücklich nicht an der Diskussion teilnehmen wollte: Joachim Löw. Er änderte seine Aufstellung dennoch. Der zuletzt erkältete Mats Hummels kam wieder in die Abwehr, Per Mertesacker saß auf der Bank.

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Jérôme Boateng lobt hymnisch Manuel Neuers Heldentat in der Nachspielzeit. Bundestrainer Joachim Löw erklärt seine überraschende Aufstellung. Und Mats Hummels klagt über die Wärme.

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Erstmals ließ Löw also nicht mit vier Innenverteidigern spielen, stattdessen kehrte Kapitän Philipp Lahm auf die rechte Abwehrseite zurück. Im zentralen Mittelfeld spielten erstmals bei dieser WM Sami Khedira und Bastian Schweinsteiger von Beginn an; zudem stand Miroslav Klose erstmals in der Startelf. "Die Mannschaft kennt meine Planspiele", sagte Löw später, "wenn ich das Gefühl habe, einen anderen Reiz setzen zu müssen, mache ich das auch." Ein dichtes Zentrum, das war Löws Plan gegen die flinken Franzosen. Und er funktionierte. "Wir haben sehr eng gespielt, sind gut aufgerückt", sagte Löw.

Die deutsche Elf verteidigte nicht so offensiv wie gegen Algerien, wurde deswegen auch nicht mit langen Bällen ausgekontert. Dennoch stand die Defensive nicht immer stabil. Schon nach wenigen Sekunden gab es ein Missverständnis zwischen Khedira und Schweinsteiger, Jérôme Boateng verhinderte jedoch einen frühen Gegenangriff. Die Mannschaft von Trainer Didier Deschamps hatte die erste gute Torchance: Nach sieben Minuten schoss Karim Benzema am Tor vorbei. Vier Minuten später grätschte Mats Hummels den Ball gerade so noch vor Benzemas Füßen weg.

Zwei Minuten später hatte Löws Mannschaft erstmals eine gute Gelegenheit, ausgerechnet nach einer Angriffsvariante, die Löw bis kurz vor dem Turnier nicht sonderlich schätzte: eine Standardsituation. Toni Kroos flankte den Ball aus dem linken Halbfeld, Kopfball Hummels, die Führung. Es war bereits das vierte Tor nach einer Standardsituation für das Team bei dieser WM.

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:Immer wieder lockt die Eistonne

André Schürrle wirkt nach seiner Einwechselung wie Speedy Gonzales, dagegen schleppen sich Khedira und Schweinsteiger wie Elefanten übers Feld. Und Manni, der Libero, entdeckt die Bedeutung von Torwartfäusten - auch ohne Erfrischung.

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"Klasse", lobte Löw. Nach diesem Treffer stand die deutsche Mannschaft erst einmal sicher, die Spieler kontrollierten das Zentrum, sie warteten nicht allzu tief ab, attackierten weiter recht früh. Eine ernsthafte Möglichkeit erspielte sich das Team jedoch nicht, es fehlte die Bewegung, das Tempo.

Stattdessen verstärkten die Franzosen nach einer halben Stunde ihre Bemühungen. In der 34. Minute kam das Team so zu einer Doppelchance: Erst klärte Neuer mit der linken Hand gegen Valbuena, dann stellte sich Hummels einem Schuss von Benzema in den Weg. Mit seinem Stellungsspiel rettete er auch acht Minuten später; Kopfball Benzema, Hummels klärte mit den Bauchmuskeln. Kurz darauf: die nächste Chance für Benzema. Der Angreifer von Real Madrid dribbelte Lahm aus, ließ sich von Boateng nicht stören, sein Schuss landete allerdings in den Armen von Neuer.

"Wir hatten drei, vier Ballverluste, und das bringt uns immer in Schwierigkeiten", sagte Löw. "Uns hat ein wenig die Präzision gefehlt" sagte Didier Deschamps.

So ging es in der zweiten Halbzeit weiter. Nach vorne drängende Franzosen, jetzt noch weiter aufgerückt, mit direkteren Zuspielen in den Strafraum. Sich nach hinten drängen lassende Deutsche, mit verhaltenen Angriffen, ein paar zaghafte, fast behäbige Konter, meist verdaddelten sie den Ball am Strafraum. Die beste Nachricht in dieser Phase: Dass die drängenden Franzosen sich ebenfalls keine guten Gelegenheiten erspielten. Weil Hummels und Boateng, Löws Innenverteidiger, das Zentrum weiter souverän abdichteten.

In der letzten Sekunde klärt Manuel Neuer mit einem starken Reflex

Nach 68 Minuten korrigierte Löw seinen Plan, für Klose kam André Schürrle, der Angreifer, der gegen Algerien für so viel Schwung gesorgt hatte (und ein erlösendes Tor erzielte). Die Konter der Deutschen wurden etwas geradliniger, doch weiter agierten die Franzosen dominanter. In der 72. Minute stand Benzema in aussichtsreicher Position im Strafraum, wieder klärte Hummels. Die deutsche Elf? Hatte eine Schusschance von Schürrle (73., zu schwach). Ansonsten prägte das deutsche Offensivspiel weiterhin: überwiegend fehlende Geschwindigkeit.

Stattdessen kombinierten sich die Franzosen immer wieder in den deutschen Strafraum, es kam so zu einem ewigen Duell: Schussmöglichkeit Benzema, Hummels blockte (76.). Eine Minute später wehrte Neuer einen Schuss vom eingewechselten Loic Remy ab.

Eine weitere Minute später hätte Schürrle das entscheidende Tor erzielen können: Konter, Mesut Özil passte zu Müller, der trat am Ball vorbei, plötzlich stand Schürrle vor Hugo Lloris. Doch auch er traf den Ball nicht richtig, der französische Torwart wehrte mit dem rechten Fuß ab. Fünf Minuten später hatte Schürrle erneut eine gute Chance. Wieder war sein Schuss zu schwach.

In der vierten Minute der Nachspielzeit stand erneut Benzema im Strafraum, Neuer klärte mit der rechten Hand. Wenig später schoss er den Ball in den Himmel von Rio de Janeiro.

© SZ vom 05.07.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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