100. Geburtstag:Ernst Willimowski, der vergessene Wunderstürmer

Er war Sepp Herbergers Lieblingsspieler, schoss den TSV 1860 zum Pokalsieg: Niemand traf so effektiv wie Ernst Willimowski, wenige tranken so viel. Der Krieg zerrüttete seine Karriere. Zum 100. Geburtstag.

Von Thomas Urban

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Quelle: Vereinschronik 1. FC Kattowitz, Stadtarchiv Salzgitter)

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Ernst Willimowski ist heute nur noch wenigen als der "Wunderstürmer" in Erinnerung, der er zu seiner Zeit war. Vor 100 Jahren, am 23. Juni 1916, wurde er in der damals deutschen Industriestadt Kattowitz in Oberschlesien geboren. Sein Vater war als Soldat im Krieg, die Mutter zog ihn allein auf. Als Kattowitz 1922 in Folge des Friedensvertrages von Versailles zu Polen kam, obwohl 85 Prozent der Einwohner für das Deutsche Reich optiert hatten, schickte sie ihren Sohn (kniend zweiter v. r.) in eine deutsche Volksschule und meldete ihn beim 1. FC Kattowitz an, dem Verein des deutschen Bürgertums in der nun polnischen Stadt.

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Quelle: SZ

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Seine Mutter heiratete in zweiter Ehe einen Polen, der rothaarige Ernst (Will.) mit den Segelohren, der mittlerweile als Dribbelkünstler auf dem Fußballplatz Furore machte, wechselte auf ein polnisches Gymnasium. Er verließ es mit der mittleren Reife, um eine Kaufmannslehre zu beginnen. Zeitlebens sprach er nur überaus fehlerhaft Polnisch. Mit 16 Jahren stand er bereits in der Seniorenmannschaft des 1. FC, die in der zweiten polnischen Liga spielte.

Ernst Willimowski

Quelle: Sammlung Kulesza, Warszawa

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1933, als er 17 Jahre alt war, wurde er vom benachbarten Erstligaverein Ruch Wielkie Hajduki (später: Ruch Chorzów) abgeworben, der soeben erstmals polnischen Meister geworden war. Der Vorsitzende des 1. FC, der deutschnationale Aktivist Georg Joschke, warf Willimowski wegen des Vereinswechsels "Verrat an der deutschen Sache in Oberschlesien" vor. Dieser (sitzend, 2. v. r.) aber wurde schon in seiner ersten Saison bei Ruch nicht nur Torschützenkönig der Liga, sondern schaffte auch den Sprung in die polnische Nationalmannschaft. Da das Polnische keine Doppelkonsonanten kennt, wurde sein Name nur mit einem L geschrieben: Wilimowski. Im Trikot mit dem weißen Adler erzielte er in 22 Partien 21 Tore, bis heute Rekord.

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Quelle: DSH Warszawa

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Bei der Fußballweltmeisterschaft 1938 in Frankreich machte er Schlagzeilen: Im Achtelfinale gegen Brasilien spielte er die Abwehr der Canarinhos schwindlig, er schoss vier Tore und holte überdies einen Elfmeter heraus. Die Polen verloren nach Verlängerung unglücklich 5:6, die Partie ging als hochdramatisch in die WM-Geschichte ein. Kurz darauf war die polnischen Nationalmannschaft zur Einweihung der neuen "Großkampfbahn Chemnitz" eingeladen, verlor aber gegen die Elf Sepp Herbergers 1:4. Willimowski aber schaffte es erstmals auf die Titelseite des Kickers.

Ernst Willimowski

Quelle: Sammlung H. Winkelmaier

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Mit dem deutschen Angriff auf Polen 1939 wurde der polnische Teil Oberschlesiens wieder an das Deutsche Reich angeschlossen. Der Vorsitzende des 1. FC Kattowitz, Georg Joschke, wurde NSDAP-Kreisleiter und wollte Willimowski für seinen "Verrat" von 1933, als er zu Ruch wechselte, hart bestrafen. Doch dieser setzte sich ab, zum großen Ärger Joschkes unterschrieb er einen Vertrag beim Polizei-Sportverein Chemnitz. Willimowskis Mutter wurde wenig später verhaftet und in das KZ Myslowitz deportiert, eine Nebenstelle des KZ Auschwitz. Der Anlass dafür liegt im Dunkeln. 1942 wechselte er zum TSV 1860 München. Wie es Vorschrift war, traten die Kicker vor jedem Spiel mit Hitlergruß an (Willimowski 3. v. l.).

Ernst Willimowski

Quelle: Sammlung H. Winkelmaier

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1942 schoss Willimowski die Münchener "Löwen" erstmals zum Sieg im Pokal: Im Endspiel wurde der hoch favorisierte FC Schalke 04 mit 2:0 besiegt, der Oberschlesier schoss das erste Tor. Im Gegensatz zu den Stars von Schalke ließ er sich allerdings nie wirklich von der NSDAP-Propaganda einspannen.

Ernst Willimowski

Quelle: Sammlung H. Winkelmaier

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Die Helden des Finales des Tschammer-Pokals 1942 im Berliner Olympiastadion vor 80 000 Zuschauern: Torwart Hans Keis mit den beiden Torschützen Ernst Willimowski (links) und Engelbert Schmidhuber.

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Quelle: Niebiescy, Chorzów

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Da Willimowski mit dem Wiederanschluss seiner Heimatregion an das Deutsche Reich wieder die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatte, konnte ihn Reichstrainer Sepp Herberger auch in die Nationalmannschaft berufen. Willimowski wurde zu einem seiner Lieblingsspieler und verdrängte den Dresdner Stürmer und späteren Nationaltrainer Helmut Schön aus der Elf. Fritz Walter nannte ihn anerkennend ein "Schlitzohr".

Der Oberschlesier mit den Segelohren war der Spaßvogel der Mannschaft, der sonst so strenge Herberger ließ ihm auch seine Liebe zum Schnaps und Likör durchgehen, denn das Schlitzohr war ein unübertroffener Torschütze: 13 Treffer in acht Partien (hier das letzte Tor beim 7:0 über Rumänien 1942).

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Quelle: DSH Warszawa

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Wie schon in den dreißiger Jahren in Polen, wurde Willimowski auch im Dritten Reich einer der großen Fußballstars. Die Nationalmannschaft war für ihre Spieler auch eine Überlebenschance: Wen Herberger in seine Auswahl berief, dem blieb der Fronteinsatz vorerst erspart.

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Quelle: Sammlung Thomas Urban

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Nach der Schlacht von Stalingrad Anfang 1943 wurden alle Länderspiele abgesagt und die nationale Meisterschaft gestrichen. Nationalspieler wurden nun an die Front geschickt, sie sollten Vorbild für den "Kampfeswillen des deutschen Volkes" sein, wie es Propagandaminister Joseph Goebbels nannte. Insgesamt 33 Nationalspieler fanden als Soldaten der Wehrmacht den Tod. Der Panzerschütze Willimowski, der nach eigenen Worten Pazifist war und Uniformen verabscheute, wurde an die Ostfront geschickt und dort verwundet. Er verbrachte mehrere Wochen im Lazarett, blieb dann bis zum Kriegsende in der Etappe - und konnte dort weiter Fußball spielen, unter anderen für den traditionsreichen FV Karlsruhe und den VfB Stuttgart.

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Quelle: Niebiescy, Chorzów

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Nach dem Krieg konnte Ernst Willimowski nicht in das wieder zu Polen gehörende Oberschlesien zurückkehren, er galt als Kollaborateur und Verräter. So tingelte er heimatlos durch mehr als ein Dutzend Vereine. Längere Zeit hielt er es nur beim VfR Kaiserslautern aus, nämlich von 1951 bis 1955. Allerdings sorgte er immer wieder mit Alkoholeskapaden für negative Presse, schoss aber weiter Tor um Tor. Erst mit 43 Jahren hörte er auf. Er scheiterte dann als Kneipenwirt und landete schließlich als Nachtportier beim Nähmaschinenhersteller Pfaff in Karlsruhe, wo er 1997 starb und begraben wurde.

Zu seinem Todestag schmücken Fans aus Oberschlesien regelmäßig sein Grab. Doch die Deutschen vergaßen ihn völlig. Im zwei Kilo schweren Prachtband "100 Jahre DFB" von 1999 ist der einstige "Wunderstürmer" mit keiner Silbe erwähnt. Dafür ist er in die Literatur eingegangen: Der deutsche Dichter Stan Lafleur hat ihm ein Gedicht gewidmet, der bekannte bosnisch-kroatische Schriftsteller Miljenko Jergović einen saftigen Roman.

© Süddeutsche.de/ebc/jab
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