1860 - Augsburg:Als alle Dämme brachen

Beim Regionalliga-Derby 1973 zwischen 1860 und Augsburg strömten 80000 Zuschauer ins Olympiastadion. Für das Derby am Freitag ist die Allianz Arena seit Wochen ausverkauft.

Hans Eiberle

Steilpass Timo Zahnleiter auf Werner Luxi, den Außenverteidiger, 1:0 für 1860 gegen den FC Augsburg, am 15. August 1973 um 20.03 Uhr im Münchner Olympiastadion. Es war das einzige Tor, das Luxi in fünf Jahren für die Sechziger geschossen hat. Und mit dem er, ohne es zu ahnen, beinahe eine Katastrophe ausgelöst hätte. ,,Was kannst' machen, wenn der schon nach drei Minuten in die Kiste trifft'', sagt Manfred Amerell, damals Geschäftsführer der Fußballer des TSV 1860. ,,Da ist die Situation in Sekundenschnelle eskaliert, da sind alle Dämme gebrochen.''

Der Jubel schwappte aus dem Stadion und löste Panik aus unter den Massen, die noch im Anmarsch waren. Die Menschen kletterten über den zweieinhalb Meter hohen Zaun, dessen große Maschen den Aufstieg erleichterten, stiegen über die Kassenhäuschen und drängten in die Arena, die mit rund 60000 Zuschauer schon nahezu voll besetzt war. Selbst Fans mit Eintrittskarten ließen sich mitreißen, weil die Kassen von jenen blockiert waren, die noch kein Ticket hatten.

Die Panik blieb unbemerkt

Mehr als 80000 Menschen sollen im Stadion gewesen sein, so viele wie nie zuvor und nie mehr danach; gezählt hat sie keiner. Wohl aber jene, die es nicht geschafft hatten. Am Tag darauf wurde Bilanz gezogen: 147 Verletzte, die meisten mit Schnittwunden und Prellungen von 70 Sanitätern und zwei Ärzten im Stadion notversorgt. Aber auch 35 ernsthaft zu Schaden gekommene, in den Krankenhäusern liegend, viele mit lädierten Sprunggelenken.

Als alle Dämme brachen

Im Stadion blieb die Panik draußen weitgehend unbemerkt. Adolf Schick, damals Linienrichter, hatte nur beobachtet, ,,dass die Gänge auf den Tribünen restlos voll waren''. Werner Göhner, zu jener Zeit Direktor des Olympiaparks, er-klärt: ,,Das passierte ja auf der Nordseite, wir saßen aber auf der Haupttribüne auf der Westseite.'' Amerell sagt: ,,Wir hatten mit Sprechfunk Kontakt nach draußen'', das Handy war noch nicht erfunden. ,,Aber was hätten wir machen sollen?''

Polizeipräsident Manfred Schreiber, der im Stadion war, rechtfertigte die Entscheidung, die Polizei erst eingreifen zu lassen, als der Sturm auf den Zaun losbrach: ,,Der Veranstalter hat Hausrecht, aber da hätten auch 1000 Polizisten nichts ausrichten können'', ebenso wenig wie die 393 Ordnungskräfte. Ermittlungen wurden nicht aufgenommen, weil kein Verdacht auf Verschulden des Veranstalters bestand.

Auch der Torschütze Werner Luxi hatte ,,überhaupt nichts mitgekriegt'' und erst später von der Signalwirkung seines Treffers erfahren. Er kickte bis 1976 für 1860, aber nur 52 mal, zweier Kreuzbandrisse wegen, nach denen er zu früh wieder spielte, wie er glaubt. Dauerschaden, er kickte noch ein paar Jahre für den SB Rosenheim, zusammen mit dem Alt-Löwen Hans Reich, ,,dafür hat's noch gereicht''. Schulte vom Feinmechaniker zum Uhrmacher um, führte ein Geschäft. Mit 1860 hat er ,,nichts mehr am Hut'', sagt der 54-jährige Münchner aus dem Schlachthofviertel, weil sich keiner um ihn gekümmert habe, als er verletzt war.

Als alle Dämme brachen

Natürlich ist damals über Gründe für die bedrohliche Situation an Maria Himmelfahrt 1973 und über Versäumnisse diskutiert worden. Das Fazit: Ein Zusammentreffen unglücklicher, teilweise nicht vorhersehbarer Umstände. Gut, 1860 und die Augsburger mit dem aus Italien zurückgekehrten Helmut Haller hatten ihre Spiele zum Auftakt der Saison in der Regionalliga Süd gewonnen. Der 15. August war ein Feiertag und ein wunderschöner Sommertag. Im Vorverkauf waren nur rund 8000 Karten abgesetzt worden, was erfahrungsgemäß auf 40000, maximal 50000 Zuschauer schließen ließ. Doppelt so viele Menschen aber strömten kurz entschlossen zum Fußball; bei Spielbeginn reichte der Rückstau auf der Autobahn Augsburg bis Kilometer neun.

Die Vorfälle hatten, ein Jahr vor der Fußball-WM, die konzeptionellen Schwächen des Olympiastadions aufgedeckt. ,,Das Stadionkonzept hieß Spiele des Friedens für brave Bürger'', erklärte Polizeipräsident Schreiber und erinnerte daran, dass die Polizei schon vor Baubeginn für einen zweiten Zaun gekämpft habe, um den Zwischenraum überwachen zu können. Vergebens, ,,Architekt Behnisch wollte überhaupt keinen Zaun'', sagt Göhner. ,,Liberalität war die Lebensauffassung des Architekten Behnisch.''

Auch die Organisatoren mussten dazulernen. ,,Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen'', sagt Amerell. Schon gar nichts angesichts der Arena in Fröttmaning, in der die Sechziger am Freitag gegen den FC Augsburg antreten; ausverkauft das Spiel seit Wochen. ,,Damals gab es Eintrittskarten wie im Kino, nicht nummeriert, freie Platzwahl'', ebenso wenig Sperrgitter und Sicherheitszonen. Zehn Tage nach den Vorfällen im Olympiapark spielten die Sechziger gegen den 1. FC Nürnberg.

Sperrgitter waren errichtet worden, vor dem Stadionzaun patrouillierte berittene Polizei. Eine überflüssige Vorsichtsmaßnahme, wie sich zeigte, denn 1860 war nach dem 1:1 gegen den FC Augsburg in Frankfurt vom FSV 2:0 besiegt worden und das von Trainer Rudi Gutendorf entfachte ,,feu sacre'' früh erloschen. Es kamen nur 36000 Besucher, die sahen die Löwen 0:1 verlieren. Kein Wunder, ohne ein Tor von Werner Luxi.

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