Sprachlabor (106):Schuster, bleib bei deinem Leisten

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SZ-Redakteur Hermann Unterstöger geht auf einen Untertitel ein.

DIEJENIGEN UNTER UNSEREN LESERN, die Plinius d. Ä. im Original zu lesen pflegen, wissen aus dessen "Naturgeschichte", dass der Maler Apelles zu einem vorlauten, an einem seiner Gemälde herummäkelnden Schuhmacher sagte, er solle nichts beurteilen, was über die Schuhsohle hinausgehe - "ne supra crepidam sutor iudicaret". Man führt darauf das Sprichwort "Schuster, bleib bei deinem Leisten" zurück, das sehr schön ist, aber den Nachteil hat, dass heute kaum noch jemand weiß, was es mit diesem Leisten auf sich hat. Daraus wiederum resultiert, dass der Spruch viel öfter in der Fassung "Schuster, bleib bei deinen Leisten" zu lesen ist; so auch, zum Verdruss unseres Lesers S., kürzlich bei uns. Der Leisten ist das Holzmodell für einen Schuh, gefertigt nach dem Originalfuß des Kunden. Insofern ist die generalisierende Singularform vorzuziehen, gerade bei einem ebenfalls aufs Generalisierende erpichten Sinnspruch. Andererseits könnte man die Pluralform damit rechtfertigen, dass der Schuster für jeden Kunden zwei Leisten braucht, einen für rechts und einen für links, und wenn sein Laden gut läuft, hat er ein paar hundert Leisten in seinem Werkstattregal. Heutige Künstler wären, anders als Apelles, vielleicht ganz froh, wenn sich Schuster zu ihren Bildern äußern würden.

Deutschland jüngste Maßschuhmacherin Kim Himer (23) posiert in ihrer 13 Quadratmeter kleinen Werkstatt in Düsseldorf-Friedrichstadt (Foto vom 05.04.2011). (Foto: dpa)

ALS DIE PALÄSTINENSER unlängst wieder einmal der Vertreibung gedachten, gab es etliche Tote. In unserem Bericht sollte der Untertitel mitteilen, dass die israelische Armee scharf geschossen und mehr als zehn Menschen getötet habe. Da wurde wohl ein paarmal um- und nachgearbeitet, mit dem bedauerlichen, einige Leser verstörenden Ergebnis: " . . . die Armee schießt mit scharfer Munition und mehr als zehn Menschen." Unter anderen Umständen hätte man an so einer Panne seinen Spaß haben können, unter diesen nicht.

WENN STAMMTISCHLER fest respektive, wie sie gern sagen, "finster" entschlossen sind, beispielsweise beim Vatertagsausflug mitzuziehen, verkünden sie: "Also, Leute, da bin ich auch vertreten!" Sie meinen damit aber das Gegenteil dessen, was sie sagen, nämlich dass sie keineswegs vertreten werden, sondern selber dabei sein wollen. Der Kirch-Prozess ist kein Vatertagsausflug und die Herren von der Deutschen Bank sind kein Stammtisch. Trotzdem musste unser Leser Dr. P. bei uns erfahren, dass Aufsichtsratschef Börsig "in München vertreten" gewesen sei. Clemens Börsig war aber persönlich da - eine kleine Parallele wenigstens zu den Stammtischlern.

© SZ vom 28./29.05.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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