Mein Deutschland:Zeilen über Jackson zählen

Milliarden von SMS, Fernsehbilder, Experten-Interviews: Dem Tod von Michael Jackson folgte ein großes mediales Requiem.

Pascale Hugues

Ich bin nicht bereit, den Tod von de Gaulle zu vergessen. Es war der 9. November 1970. Der damalige Schulminister hatte die sadistische Idee, allen französischen Kindern ein Diktat aus den "Mémoires de Guerre" zu verordnen, als Zeichen des Respekts für den großen Staatsmann. Für mich bleibt der Tod des Retters Frankreichs für immer verbunden mit den Konjugationsregeln des passé simple, dieser geistigen Folter der französischen Grammatik.

Mein Deutschland: Michael Jackson's star is seen on the Hollywood Walk of Fame

Michael Jackson's star is seen on the Hollywood Walk of Fame

(Foto: Foto: AFP)

Glücklicherweise ist Annette Schavan noch nicht auf die Idee gekommen, Billie Jean derart zu entweihen, obgleich das Lied sicher mehr Begeisterung hervorgerufen hätte als die Kriegserinnerungen von de Gaulle.

Das hätte kein General der Welt geschafft

Nach dem Tod von Michael Jackson haben Schüler einer Schule in meinem Viertel beschlossen, vor dem Unterricht eine Schweigeminute einzulegen. 30 Pubertierende blieben 60 Sekunden lang still an ihrem Platz, mit geschlossenem Mund, aufrechtem Körper, starr vor Respekt. Was dem King of Pop ohne Mühe geglückt ist, hätte kein General dieser Welt geschafft. Diese Jugendlichen werden sich ungetrübt an den Tod ihres Idols erinnern.

Es fällt schwer, sich von dem großen medialen Requiem zu erholen, das dem plötzlichen Tod von Michael Jackson folgte. Milliarden von SMS, die nachts hin und her schossen, Fernsehbilder von morgens bis abends, die Diagnosen der Psychologen und die Expertisen der Prominenten.

Selbst die FAZ, ehrwürdige Stimme des Bildungsbürgertums, dürfte Michael Jackson mehr Platz eingeräumt haben als Ralf Dahrendorf, der wenige Tage zuvor gestorben war. Ich habe mir geschworen, die Zeilen zu zählen. Farrah Fawcett hatte die schlechte Idee, am selben Tag wie Jackson zu sterben, womit ihr Ableben unbemerkt blieb.

Die großen Ereignisse des Jahrhunderts

Wird der Tod von Michael Jackson zu den großen Ereignissen des Jahrhunderts zählen? Kann er Jim Morrison übertreffen, dessen Grab auf dem Friedhof Père Lachaise die viertgrößte Touristenattraktion von Paris ist, gleich nach dem Eiffelturm? Wird Jackson mit Lady Di konkurrieren können, deren Mausoleum noch immer mit Blumen bedeckt ist, zwölf Jahre nach ihrem Tod? Auf der Terrasse eines Berliner Cafés überlegte ich diese Woche mit ein paar Freunden, welche Toten uns in Zukunft tief bewegen werden. Mick Jagger? Nicht sicher, dass die Jüngeren ihn überhaupt noch kennen. Bob Dylan? Da werden nur 68er Trauer tragen, und die tragen ohnehin immer schwarz. Papst Benedikt? Sicher nicht. Königin Elisabeth? Ein Fall für Großmütter, ohnehin interessiert nur die Frage, ob sie genauso viel Anteilnahme erfahren wird wie ihre Schwiegertochter. Obama? Ja, wenn er morgen umgebracht würde.

Und weil ich zuvor einen Dokumentarfilm über Adenauer gesehen hatte und sehr beeindruckt war vom Sarg, der langsam den Rhein hinunterschipperte, warf ich den Namen Kohl in die Runde. Was wäre, wenn der Ex-Kanzler am 9. November, 20 Jahre nach dem Fall der Mauer und am selben Tag wie de Gaulle stürbe? Keine Chance, riefen die anderen wie mit einer Stimme. Die Plätze in der Nachwelt sind gezählt. Und Politiker werden - angesichts des Königs des Pop und der Königin der Herzen - es immer schwerer haben.

Vier Berliner Auslandskorrespondenten schreiben an dieser Stelle jeden Samstag über Deutschland. Pascale Hugues arbeitet für das französische Nachrichtenmagazin Le Point (Foto: Nelly Rau-Häring).

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