Mein Deutschland:Upper middle oder lower class?

In Großbritannien wird nur noch in Gewinner und Verlierer unterteilt.

Pascale Hugues

Aufgeschreckt von den Unruhen jenseits des Ärmelkanals fragen sich die Deutschen in ihrer nervenaufreibenden Egozentrik: Ist so eine Entgleisung auch bei uns möglich? Drohen bei uns die Vernachlässigten durch die Straßen von Leipzig und Düsseldorf zu ziehen, Geschäfte zu plündern und Autos anzuzünden?

Duggan Riots: Die gewalttätigen Krawalle greifen auf Liverpool über

Nach den schweren Ausschreitungen in London auch gewalttätige Krawalle in Liverpool.

(Foto: action press)

Ich erinnere mich an eine gewisse Erleichterung, als ich Großbritannien verließ und nach Deutschland zog. Die Zeitung, bei der ich arbeitete, hatte das Personalkarussell der Korrespondenten angestoßen. So wechselte ich aus einer Gesellschaft mit hermetisch voneinander abgeschotteten Kasten in ein leistungsorientiertes System, wo ein Sohn einer Haushaltshilfe Kanzler werden kann.

Großbritannien ist zweifelsohne das Land in Europa, in dem die sozialen Ungleichheiten am stärksten zementiert sind: Oben ist die upper middle clas s , die ihre Kinder mit acht Jahren in public schools schickt, diese unerschwinglichen, privaten Internate, wo man beim Rugby-Spielen sein old boy network spannt. Diese Seilschaften ermöglichen später den mühelosen Aufstieg zu den hohen Sphären des beruflichen und gesellschaftlichen Lebens. Unten befindet sich eine lower class , wie es sie weder in Deutschland noch in Frankreich gibt. Deren Kinder mit rauem Akzent, die auf der Straße Fußball spielen, gehen auf die staatlichen Schulen und lassen die exorbitanten Zahlen der Jugendarbeitslosigkeit ansteigen. Im Gegensatz zu Deutschland gibt es zwischen dem Oben und Unten so gut wie keine Brücken.

Diese Kluft verblüfft mich jedes Mal, wenn ich nach Großbritannien fahre. Die Straßenschlachten haben mich daher nicht wirklich überrascht. In London ist das Leben so schwierig geworden, so teuer und so unterteilt in Gewinner und Verlierer der Krise. Auf der einen Seite sind die Wohlhabenden, die übrigens nicht mehr überwiegend der traditionellen britischen Gesellschaft angehören. Die prächtigen Immobilien in Wimbledon Village gehören jetzt neureichen Arabern und Russen. Neues Geld und greller Luxus haben gute Herkunft und diskretes understatement überholt. Einige U-Bahn-Stationen weiter: Hackney, Tottenham, Clapham - die Viertel, die nun in Flammen stehen. Arm und trostlos, erinnern sie an Osteuropa in den fünfziger Jahren. Gegenüber den grauen Blocks mit Sozialwohnungen in Hackney wirken die Plattenbauten der DDR fast wie fesche Penthäuser. Es ist eine Welt wie aus einem Film von Ken Loach: steigende Arbeitslosigkeit, vor allem unter jungen Leuten, gekürzte Sozialleistungen, Obdachlosigkeit und Kleinkriminalität. Und kein Licht am Ende des Tunnels.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Pascale Hugues arbeitet für das französische Nachrichtenmagazin Le Point.

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