Mein Deutschland:"F" für faschistisch?

Ein Land der Ordnung und Disziplin.

Andrey Kobyakov

Vor 20 Jahren feierte Deutschland Wiedervereinigung - und die Sowjetunion betrauerte den Verlust ihres ideologischen Brückenkopfes an der Grenze zum ewigen Konkurrenten, dem Westen. Für Sowjetbürger verschwand damit nicht nur der potentielle Kriegsgegner Nummer zwei (nach den USA), sondern auch eines der beliebtesten Reiseziele, und die Gefühle vieler Russen waren dementsprechend zwiespältig. Einerseits freuten sie sich über die Wiedervereinigung eines getrennten Volkes, andererseits fühlten sie echte Enttäuschung und Erbitterung. Das ist übrigens einer der Gründe, warum der im Westen so populäre Politiker Michail Gorbatschow bis heute in Russland und einigen anderen ehemaligen sowjetischen Republiken so unbeliebt ist.

Merkel strebt Modernisierungspartnerschaft mit Russland an

Bundeskanzlerin Angela Merkel und der russische Präsident Dimitrij Medwedew (l.) besichtigten in Jekaterinburg (Russland) mit Erzbischof Wikentij (r.) die "Kathedrale auf dem Blut". Merkels Schreibtisch im Kanzleramt ziert ein Bild von Katharina der Grossen, der Zarin, die im 18. Jahrhundert über 30 Jahre lang Russland regierte. Das 2003 eröffnete Gotteshaus steht genau an jener Stelle, an der die letzte Zarenfamilie erschossen worden war.

(Foto: ddp)

Die sowjetische Propaganda verstand ihre Sache - einer Umfrage von 1983 zufolge war die DDR in den Augen eines durchschnittlichen Russen "ein nicht reiches Land, wo man dennoch im Wohlstand lebt und wo die guten, also ,unsere' Deutschen wohnen". Die Bundesrepublik beschrieben die meisten Befragten, die heute älter als 50 Jahre alt sind, dagegen so: "Ein sehr reicher Staat, wo aber nur die Kapitalisten-Ausbeuter gut leben, wo den ehemaligen Faschisten Obdach gewährt wird und wo die armen Arbeiter immer wieder streiken". Ich habe selbst erlebt, wie eine Frau ihrem Kind, einem ABC-Schützen, erklärte, was FRG, die russische Transkription von BRD, bedeutet. Das "F" (Föderalistische) stehe für "faschistisch", sagte sie. Wenn man jedoch von Politik und Ideologie abstrahierte, schwärmten die Sowjetbürger stets von deutscher Arbeitsfähigkeit, Ordentlichkeit und Disziplin.

All das ist längst vorbei. So wie zwei schreckliche Kriege die grundlegende Sympathie zu Deutschland und den Deutschen nicht ausrotten konnten, haben die Russen auch den bitteren Verlust ihrer sozialistischen Glaubensgenossen überwunden. Die schwarzen Propaganda-Bilder und frühsowjetischen Mythen wurden von realen Erlebnissen abgelöst, die warmen Gefühle für die Ostdeutschen gelten nun dem gesamten Volk. Heute nennen fast 60 Prozent der Russen Deutschland als "das Land der Ordnung und Disziplin". Ein Drittel der Befragten meint, dass "man von Deutschen vieles lernen" könne. Je 20 Prozent halten Deutschland für ein "Muster des Wirtschaftserfolgs" und den "wichtigsten Geschäftspartner für Russland". Nur ein paar Prozent definierten die Bundesrepublik als "ewigen Feind von slawischen Völkern" und "den Staat, der permanent die USA und ihre Politik unterstützt". Was überdies bemerkenswert ist: Bei der Fußball-WM in Südafrika drückten die meisten Russen, deren Team am Tournier nicht teilnahm, Daumen für Deutschland und Spanien.

Woher stammen die russischen Sympathien zu den Deutschen und ihrem Land? Vielleicht aus der früheren Geschichte: Mehr als die Hälfte der Zaren des russischen Reiches hatten bekanntlich deutsche Wurzeln. Oder liegt ein Grund im eher irrationalen Denken der Russen? Es ist üblich bei uns, die Menschen, mit denen wir uns gestern noch geprügelt haben, heute zu umarmen. Es kann durchaus sein, dass uns gerade jene typisch deutschen Eigenschaften anziehen, die wir ganz sicher nie beherrschen werden, etwa Pünktlichkeit, Sparsamkeit und Pragmatismus. Oder gehören diese schon zu den Stereotypen von vorgestern, die für moderne Deutsche nicht mehr gelten? Dann haben wir noch eine andere Version einer Antwort...

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Andrey Kobyakov arbeitet in der russischen Redaktion der Deutschen Welle in Bonn.

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