Mein Deutschland:Eine Sprachpatriotin

Die deutsche Sprache klingt wie ein eingefrorener Wasserfall im Winter.

Agnieszka Kowaluk

"Und Du, bist Du Patriotin?" fragte meine Tochter beim Frühstück, nachdem wir die komplexe Frage geklärt hatten, was Patriotismus sei - mit differenzierter Darstellung verschiedener Formen der Heimatliebe: der amerikanischen etwa, der deutschen und vor allem der polnischen. "Nein", antwortete ich erschrocken und nachdenklich. Denn früher bestand ich immer auf meiner patriotischen Gesinnung. Stellte mich als in Deutschland lebende Polin ungläubigen Fragen, suchte nach Definitionen, führte geschichtliche Analysen durch, zog die Literatur zu Rate, äußerte teils ernst, teils ironisch gemeintes Verständnis dafür, dass meine deutschen Freunde keinen Zugang zu diesem Thema haben (können), weinte fast vor Wut der Ratlosigkeit und gab meistens auf.

Polnischunterricht an einer deutschen Schule

Polnischunterricht an einer deutschen Schule. Eine polnische Studentin (Mitte) von der Europa Univeristät Viadrina in Frankfurt (Oder) erklärt den Schülern der Manschnower Grundschule die richtige Schreibweise eines Wortes.

(Foto: DPA)

Ich bin also keine Patriotin. Auf die Frage meiner Nachbarin, ob ich in den Ferien nach Hause fahre, antworte ich: Nein, ich würde einfach für eine Weile nach Polen reisen. Meiner Tochter erließ ich die polnische Schule am Samstag, und nachdem sie den ersten Band von Harry Potter auf Polnisch gelesen hatte, durfte sie sich bei den restlichen auf Deutsch gruseln. Tom Sawyer kauften wir gleich in einer - hervorragenden! - deutschen Übersetzung. Denn ich bin Sprachpatriotin. Ich liebe Deutsch so sehr, dass ich ständig versuche, es ins Polnische zu verpflanzen; weil ich Polnisch ebenfalls liebe. Ich verzweifle über der Unübersetzbarkeit des bayerischen "gell", des fantastischen allgemeindeutschen "doch" und des polnischen "akurat", welches gar nicht "akkurat" meint.

Die deutsche Sprache liebe ich dafür, dass sie aufnahmebereit und geräumig ist wie ein deutscher Nebensatz, in dem man zwischen Subjekt und das geduldige finale Prädikat alles mögliche hineinpacken kann, oder wie ein zusammengesetztes deutsches Substantiv: "Mittelstreckenraketenverbreitungsverbot" zum Beispiel. "Die deutsche Sprache klingt wie ein eingefrorener Wasserfall im Winter", sagte auf der Frankfurter Buchmesse die isländische Autorin Kristín Marja Baldursdóttir. Deutsche übersetzen am meisten von allen Europäern. Jedes zweite belletristische Buch ist eine Übersetzung. Das sieht man in Frankfurt. Und auch dafür liebe ich Deutsche: für das Undeutsche in ihrer Sprache.

Meine schönste Buchmessen-Erfahrung war der nachmittägliche Cappuccino mit einer Verlegerin zwischen Halle 3 (deutsche Verlage) und Halle 5 (polnische Verlage). In der Oktobersonne unterhielten wir uns über deutsche Bücher, die weder sie verlegt noch ich übersetze oder zu besprechen beabsichtige, sondern einfach, weil wir sie gut fanden. Wir sprachen über einen polnischen Dichter, der ebenfalls nichts mit unserer Arbeit zu tun hat, den wir aber beide verehren. Nach unserem kurzen Gespräch hatte ich das Gefühl, ganz viel an Mehrwert des internationalen Literaturmarktes geschaffen zu haben. Die Gespräche zwischen den Hallen sind nämlich die besten. Das Dazwischen-Sein ist am besten.

So wie bei der Rückreise im ICE Frankfurt-München, in dem ein Koreaner, ein Perser, eine Türkin, ein Indonesier, eine Polin und ein Deutscher vier Stunden in deutschen Büchern und Zeitungen blätterten. "Immigranten", dachte ich, "sind wie übersetzte Bücher - sie sind da, obwohl niemand auf sie gewartet oder sie vermisst hat, bevor sie da waren. Sie sind ein Mehrwert in jedem ICE." Und jetzt weiß ich's: Ich bin Mehrwertpatriotin.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Agnieszka Kowaluk ist Journalistin und Literatur-Übersetzerin. Sie berichtet unter anderem für die polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza .

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