Mein Deutschland:Ein Leben auf wenigen Seiten

Wie lässt sich das Vergessen des Holocaust verhindern - aber auch kontraproduktive Moralpredigten? Eine schöne und zugleich nüchterne Antwort aus Berlin.

Pascale Hugues

65 Jahre schon. Am 27. Januar 1945 haben die russischen Truppen Auschwitz befreit. Die letzten Zeugen sterben in Altersheimen, in Israel und den USA. Die Vergangenheit verflüchtigt sich. Das Gedächtnis verschwimmt. "Jude" ist erneut ein Schimpfwort auf deutschen Schulhöfen, die Mega-Provokation, und viele Jugendliche machen große Augen, wenn sie das Wort Holocaust hören.

Mein Deutschland: Im Bild: Erinnern an den Holocaust -  Besucher in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen in Oranienburg bei Berlin. Im Schöneberger Rathaus erinnern Berliner Bürger mit einer Ausstellung an das Leid von Tausenden Juden, die vor der Machtergreifung der Nazis in diesem Viertel wohnten.

Im Bild: Erinnern an den Holocaust - Besucher in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen in Oranienburg bei Berlin. Im Schöneberger Rathaus erinnern Berliner Bürger mit einer Ausstellung an das Leid von Tausenden Juden, die vor der Machtergreifung der Nazis in diesem Viertel wohnten.

(Foto: Foto: AP)

Wie lässt sich das Vergessen verhindern? Wie lassen sich die Sonntagsreden vermeiden, die Pflichtübungen ohne jegliche Emotionen, die kontraproduktiven Moralpredigten? Wie können wir die schreckliche Vergangenheit noch einmal und für einen ganz kleinen Augenblick wachhalten?

Die Bewohner und das Rathaus meines Berliner Viertels haben eine schöne und zugleich nüchterne Antwort gefunden: die Ausstellung "Wir waren Nachbarn" im Schöneberger Rathaus. Man muss bis an das Ende eines langen Ganges gehen und mehrere schwere Türen aufstoßen, um die Namen der Tausenden Juden zu finden, die vor der Machtergreifung der Nazis in diesem Viertel lebten, das man damals die "Jüdische Schweiz" nannte.

Berühmte Intellektuelle, Ärzte, Rechtsanwälte, hochdekorierte Veteranen des Ersten Weltkriegs, Kinder - ein perfekt integriertes Bildungsbürgertum, das sich seiner Rechte bewusst war und sich sicher fühlte.

Straße für Straße, Haus für Haus, Etage für Etage .. . Auf den Mauern einer Halle, die von fahlem Licht beleuchtet wird, hängen Tausende handgeschriebene Zettel mit den Namen von Menschen, erniedrigt, emigriert, verschwunden, deportiert unter den Augen ihrer Nachbarn. Manche sind berühmt wie Alfred Kerr und Albert Einstein. Andere haben ein bescheideneres Leben geführt, und man hätte sie vergessen, gäbe es nicht diese Fleißarbeit der Erinnerung.

Manche haben nach Argentinien oder England flüchten können, andere sind nie aus den Lagern zurückgekehrt. Auf langen Tischen mit kleinen Lampen liegen Alben über mehrere Familien, ihre Fotos, Briefe, die Erinnerung der Überlebenden. Ein Leben auf wenigen Seiten.

Der reiche Tabakhändler, die Direktorin der privaten Kunst- und Gewerbeschule, das kleine Mädchen, das jeden Sonntag seiner Mutter einen Brief schrieb - sie alle waren unsere Nachbarn. Sie sind ihrer Bürgerrechte beraubt worden, die doch die stolze Festung dieses Rathauses schützen sollte. Deshalb ist es nur richtig, dass ihrer an diesem Ort gedacht wird. Und nirgendwo anders.

Hier erscheint der Holocaust nicht mit der Monströsität eines Konzentrationslagers, das Hunderte Kilometer entfernt ist, fern von uns und ohne uns. Dank der Transport- und Evakuierungslisten, der Gasrechnungen und der Karteikarten der Vermögensverwertungsstelle, Dank all dieser nüchternen Dokumente so ganz ohne Pathos, wird der Holocaust plötzlich real und alltäglich. Unter unseren Augen wird das Viertel von damals wieder lebendig. Ein anderes Schöneberg lebt plötzlich auf, ein Schöneberg, das für immer verschwunden ist. Und man wird traurig. Unendlich traurig.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Pascale Hugues arbeitet für das französische Nachrichtenmagazin Le Point.

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